Freitag, 26. August 2011

Sieben Jahre in Tibet - Brief an den Sohn

Lieber Rolf Harrer,
ich bin eine Person, die Du nicht kennst. Ein Mann, den Du noch nie getroffen hast. Aber Du bist jemand, der meine Gedanken und mein Herz beschäftigt, in diesem fernen Land, zu dem ich gegangen bin. Wenn Du Dir einen versteckten Ort vorstellen kannst, der fernab der Welt ist und den hohe schneebedeckte Berge verbergen, mit all den seltsamen Schönheiten Deiner nächtlichen Träume, dann weißt Du wo ich bin.
In Tibet glauben die Menschen, dass ihre schlechte Taten gereinigt werden, wenn sie lange Strecken zu heiligen Orten wandern. Sie glauben, je schwieriger die Reise, desto größer ist die Tiefe der Reinigung. Ich wanderte von einem entfernten Ort zum nächsten und das seit vielen Jahren, so lange Du schon lebst. Ich erlebte wie die Jahreszeiten in den Hochebenen wechselten. Wie es wilde Kiangs im Winter in den Süden zieht, um im Frühling wieder auf die Felder zurück zu kehren.
An diesem Ort, wo die Zeit stillsteht, scheint es, dass alles in Bewegung ist. Inklusive mir. Ich weiß nicht, wohin ich gehe und ob meine schlechten Taten gereinigt werden können. Es gibt so viele Dinge, die ich getan habe und bereue. Aber ich hoffe, wenn ich zu einem völligen Stillstand gekommen bin, wirst Du hoffentlich verstehen, dass die Distanz zwischen uns nicht so groß ist, wie es scheint.
Mit tiefer Zuneigung, Dein Vater,
Heinrich Harrer



Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen

Nur zu, tu Dir keinen Zwang an!