Dienstag, 19. Juli 2011

Mitternachtsspitzen

Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Ein untrügliches Zeichen, dass sie die Beherrschung jeden Augenblick verlieren würde. Die Klasse der 9 c tobte ausgelassen wie ein österreichischer Altherrenverein auf Mallorca auf den Tischen. »Könnt‘ ihr mal bitte ruhig sein und euch ordentlich hinsetzen?« rief sie in den Raum, was prompt mit zerknüllten Papierkugeln beantwortet wurde. Erst als der Fernseher flimmerte, beruhigten sie sich und starrten auf die Mattscheibe. Erschöpft ließ sie sich in den Stuhl fallen und suchte nach Aspirin in ihrer Handtasche. Doch hatte sie seit langem den Wunsch, eine großkalibrige Handfeuerwaffe darin zu finden und Salve um Salve in das aufgedrehte Schülerpack zu pumpen. Allein die Aussicht auf strafrechtliche Konsequenzen hielt sie zurück. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen konnte, dass sie in zwei Tagen ums Leben kommen würde.
Doch bevor es so weit ist, nehmen wir uns doch etwas Zeit und lernen sie näher kennen. Sie heißt Karina Buttler. »Mit Doppel t, ich bin ja schließlich kein Butler.« betonte sie stets, in der Hoffnung witzig zu wirken, was selbstredend selten der Fall war. Karina ist eine normale Frau dieser Zeit. Sie ist unzufrieden mit ihrer Arbeit und hält sich mit ihren 29 Jahren am Ende ihrer biologischen Existenzberechtigung. Sie ist alleinstehend und Deutschlehrerin an der 14. Realschule. Seit dem ersten Tag fühlte sie sich von den Schülern überfordert und ihr Nervenkostüm ähnelte immer mehr der Ozonschicht, löchrig und stetig abnehmend. Dabei hatte sie Kinder doch einmal so gemocht. Ihr fehlte einfach die dazugehörige Portion Autorität, die ihr in der Kindheit abhandengekommen war. Schuld daran hatte, wie so häufig, die eigene Mutter. Sie war Pastorin und predigte Nächstenliebe im Hause Gottes, während sie Disziplin in den eigenen vier Wänden prügelte. Da sie seit Beginn keine Ordnung in ihre Klasse bringen konnte, spielte sie alte VHS Kassetten ab. So hatte Karina ihre Ruhe und die Schüler mussten ihre Synapsen nicht mit kulturellen ‚Nullcheckern‘ wie Goethe belasten.
Nach der Stunde verließen die Schüler eifrig das Klassenzimmer und auch sie machte sich auf den Weg nach draußen. In dem Schulflur begegnete ihr Norman, der Hausmeister. »Na Karina, schon auf‘m Sprung? Willste heut‘ Abend noch bei mir etwas rumturnen?« sagte er mit testosteronverschmierten Grinsen. Sie ging wortlos an ihm vorbei und ließ ihren Mittelfinger über die Schulter ragen. Sie hatten vor einiger Zeit ein Techtelmechtel miteinander, was ein abruptes Ende fand, als sie ihn mit Frauenunterwäsche vor dem Spiegel überraschte. Sie hatte nichts gegen Fetische, doch einem haarigen Mann in der Spitzenunterwäsche ihrer Mutter konnte sie nicht viel abgewinnen. Immer wenn sie auf ihn traf, tat sie das, was ein übergewichtiger Tourist mit dem Wasser in einem Freibad machte: Sie verdrängte, und zwar die aufkommenden Bilder aus ihrem Kopf. Er hingegen kam mit der Trennung nicht zurecht und fand Genugtuung darin, ihr ständig nachzustellen.
Schnee bedeckte den Hof der Schule, den einige Schüler nutzten, um Schneebälle an das Glas der Haltestelle zu werfen, hinter der Karina auf die Straßenbahn wartete. Sie ließ den Kopf hängen und schwieg, als das halbstarke Pack sich darüber amüsierte. Die Bahn brachte sie wenig später in ihr Wohnviertel und von dort schlenderte sie zu der kleinen Kioskbude. Alfred hatte schelmische Falten um die Augen, als er sie mit einem Schmunzeln begrüßte. Sie kaufte fast jeden Tag ein Magazin, um das Östrogen in ihr zu befriedigen. Sie mochte Alfred, obwohl sie kaum verstand, was er sagte, wusste sie so viel, dass er früher im britischen Militär gedient hatte, ehe er als Gastarbeiter nach Deutschland kam und sich nun etwas zur Rente hinzu verdiente. Sie nahm das Frauenmagazin, verabschiedete sich mit einem militärischen Gruß und brauchte nur einige Schritte durch den Schneematsch bis zu ihrer Haustür. Sie leerte den Briefkasten und schlurfte zu ihrer Bleibe. Zwar war sie unzufrieden mit ihrer Arbeit, doch bildete die Wohnung für sie eine Zufluchtsstätte. In jeden Raum konnte ungehindert positive Energie durch die Fenster gleiten. Die Möbel ordnete sie nach den Vorgaben eines Feng-Shui Experten an. Immer wieder spürte sie beim Betreten, wie das Yin der Mahagoni Kommode von dem Yang des Ziegenhaarteppichs komplettiert wurde. Karina legte sich auf die Couch und überflog mit offener Hose die Post, bis sie einen kleinen Brief bemerkte. Mit feiner Handschrift stand ihre Adresse auf dem Umschlag. Kein Absender. Der Geruch des Parfums, der von dem Brief ausströmte, kam ihr bekannt vor, doch konnte sie ihn nicht einordnen. Zögerlich öffnete sie ihn und nahm einen Zettel heraus. Werte Frau BuTtler seien sie gewarnt, der Tod eilt mit großen Schritten zu Ihnen. Können Sie ihn hören? Können Sie seinen heißen Atem auf Ihrer Haut spüren? Bald ist er da. N. Erneut überflog sie die Nachricht und runzelte die Stirn. Sie glaubte wohl, dass es sich um eine schlechte Marketingkampagne eines Franchise Unternehmen für Beerdigungen handelte, da sie den Brief kurz darauf zu Boden segeln ließ. Normalerweise würde sie ihre Augen mit den Niederrungen menschlichen Abschaums betäuben, doch nach dem Abendprogramm der Privatsender stand ihr gerade nicht der Sinn. Vielmehr schaltete sie den PC ein und berichtete dort ihren Freunden von dem Tag. 
Sie verbrachte oft Stunden vor dem Rechner und bis vor einiger Zeit traf sie sich mit interessanten Menschen. Doch nachdem sie das Schema F durchschaut hatte, beschränkte sie sich auf das Chatten. Denn oft lief es so: Der virtuelle Jaques-Piere mit dem cum laude Abschluss von der Ecole Normale Superieure Universität, dem eloquenten Wortfluss auf dem Bildschirm und baumstammdicken Oberarmen im Profilbild entpuppte sich allzu oft als der reale Hans-Dieter mit der Dauerkarte für den VfL Bochum, dem Wortschatz eines CASIO Taschenrechners und dem Aussehen eines sibirischen Tanzbärs. Falls ein Mann das hielt, was das Profil versprach, krochen früher oder später Marotten ins Tageslicht, die Hand in Hand mit den Neigungen des Hausmeisters gingen. Karina sah sich als sozialer Ankerpunkt für geistig deformierte Männer. Dieser Brief bestätigte dies wieder einmal eindrucksvoll. 
Als sie ihre Augen kaum noch offen halten konnte, machte sie sich bettfertig. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und fühlte sich nur halb so attraktiv, wie sie eigentlich war. Schuld daran waren die Photoshopkünstler gängiger Hochglanzmagazine, die suggerierten, dass Karinas regelkonformer BMI doch einstelliger Natur sein musste, um das Adjektiv gutaussehend zu verdienen. Zudem dachte sie, dass die Narbe auf ihrer linken Augenbraue, ihr Gesicht zu Quasimodo 2.0 mutieren ließ. In Kindertagen ließ sie sich vom Fahrrad fallen, um so die mitfühlende Aufmerksamkeit der Mutter zu erhalten. Doch folgte darauf ein ungemütliches Wiedersehen mit dem Zollstock, da das teure Rad nun nicht mehr zu gebrauchen war. Manchmal sind Kinder wie Hunde: Prügelt man sie lange genug, glauben sie mit der Zeit es verdient zu haben. Daher kümmerte sich Karina liebevoll um ihre Frau Mama, besuchte sie und telefonierte jeden Abend kurz mit ihr. Genau wie sie es in jenem Augenblick vorhatte, doch bevor sie die Nummer wählen konnte, klingelte es. Sie hielt den Hörer ans Ohr und hörte nur Rauschen, bis sie ein deutliches Keuchen vernahm. »Brauchen Sie Hilfe? Kann ich Ihnen helfen?« Sie hatte eine sehr naive Ader, die auch hier zum Vorschein kam, da sie wohl einen Asthmakranken vermutete, dem seine Medizin abhandengekommen war und sich mit letzten Atemzügen ans Telefon gerobbt hatte. Doch war dem nicht so, denn schon piepte das Besetztzeichen in ihr Ohr. Sie beäugte den Hörer für eine Weile, schüttelte den Kopf, ehe sie auflegte und kurz darauf mit der Mutter telefonierte. Mit dem Schlagen des alten Kirchturms auf dem Platz gegenüber, erlosch das Licht in ihrer Wohnung und sie legte sich schlafen. Also geben wir ihr doch für diese eine Nacht etwas Privatsphäre und Gelegenheit Kraft zu sammeln. Denn gerade letzteres wird sie für den morgigen Tag bitter nötig haben.

Die Sonne erhob sich am nächsten Morgen zum letzten Mal in Karina Buttlers Leben. Der Abdruck des Kopfkissens bedeckte ihre linke Gesichtshälfte. Der in Japan hergestellte Wecker war dafür verantwortlich, dass ihre deutsche Tugend der Pünktlichkeit heute nicht zum Tragen kam. Für eine Dusche fehlte die Zeit und so griff sie das Textil vom Boden und rannte mit zerknittertem Gesicht und Klamotten aus der Wohnung. Dass sie heute mit der Straßenbahn anstatt dem Auto zur Schule fuhr, ließ sich auf eine Marotte von Karina zurückführen. Denn machte sie gewisse Tätigkeiten von Anderen abhängig. Wenn zum Beispiel Nico aus ihrer Klasse, in der ersten Stunde davon prahlen würde, die Laura ‚klar‘ gemacht zu haben, muss sie eine Woche lang die Straßenbahn fahren. Dazu wäre sie noch verpflichtet, ein Gespräch mit einem Passanten anzufangen. Auf diese Weise lernte sie vor einigen Jahren ihre große Liebe Steffen kennen, die ihr jedoch von einer gewissen Kathrin ausgespannt wurde. Beide zogen daraufhin nach Spanien und noch immer trauerte sie ihm hinterher. Sie träumte davon, eines Tages nach Spanien zu ziehen, um ihn zurückzugewinnen. Seit ihrem Urlaub dort, mochte sie das Land und die Menschen. Da zu leben wäre für sie, mit oder ohne Steffen die Erfüllung. Doch könnte sie nicht ohne weiteres ihre pflegebedürftige Mutter so zurücklassen. Zudem verabscheute sie zwar ihre Arbeit wie ein ausuferndes Pilzgeflecht, doch fehlte ihr einfach der Mumm alles hinzuwerfen mit der bloßen Aussicht auf Unsicherheit.
Von der Haltestelle stapfte sie eilig durch den Schnee in die Schule. Wie immer wartete Norman vor dem Klassenzimmer. »Nicht jetzt!« rief sie ihm zu, noch ehe er etwas sagen konnte und betrat außer Atem ein leeres Zimmer. »Die ham die Stunde ausfallen lassen Schätzchen, da de nich‘ da warst. Also schön die Bälle flach halten.« sagte er, während er sich mit dem Arm an den Türrahmen lehnte und sie ausgiebig musterte. »Mann, Mann, so durchgeschwitzt hab’sch dich ja erst nen paar Mal in meinem Bett gesehen.« Sie atmete kurz durch, ehe sie unter seinen Arm in den Flur ging. »Räum den Hof vom Schnee, Norman.« erwiderte sie trocken und verschwand daraufhin im Lehrerzimmer. Das Lehrerzimmer schwoll vor Klischees über, da die Pädagogen es mit Nebelschwaden und kaffeegetränktem Atem füllten. Die Schule war dafür bekannt, ihre Lehrer so zu verschleißen, wie es nur eine übergewichtige Prostituierte mit ihren Freiern vermochte. So scharten sich in jenem Raum auch die raubeinigsten Gladiatoren ihrer Zunft, die härter waren, als das Sammelsurium von wilden Bestien, welche täglich in die Arena des Klassenzimmers einfielen. Ihr Umgang war schroff aber ehrlich. Karina hatte einige Male probiert Kontakt zu knüpfen, doch konnten beide Seiten wenig miteinander anfangen. Also handhabte sie es so, wie bei Besuch von entfernten Bekannten: Sie blieb nicht länger dort, als es die Höflichkeit vorschrieb. »Kathrin, da wurde was in deinem Fach gelegt.« rief Tino ihr zu, der Mathelehrer mit dem selbst gestrickten Pulli, den sein Bauch zur Grenze der ästhetischen Belastbarkeit dehnte. Sie packte ihn bei seinem spärlichen Haar und brachte ihn mit einem Tritt in seine für ihn redundanten Fortpflanzungsorgane auf die Knie. Daraufhin ließ sie Fäuste in sein Gesicht hageln und schnaubte nach jedem Schlag: »Mein - Name - ist - Karina - K - A - R - I - N - A!« Solche gewaltvollen Phantasien waren für Karina keine Seltenheit geworden und flimmerten immer dann über die Leinwand ihres Kopfkinos, wenn jemand ihren Namen mit der Schlampe verwechselte, die ihren Steffen dreist ausgespannt hatte. Äußerlich reagierte sie dennoch stets freundlich und zurückhaltend. So nickte sie kurz zu Steffen und nahm einen Umschlag aus ihrem Fach. Noch bevor sie ihn öffnen konnte, wurde sie von Frau Krane unterbrochen. »Frau Buttler, der Direktor möchte sie gerne sprechen.« Frau Krane war Sekretärin, die ihre Emanzipation gleich doppelt in ihrem enganliegenden Kleid zur Schau stellte. Einige Lehrer pfiffen ihr hinterher, als sie und Karina die Tür hinter sich schlossen. Mitsamt einer peinlichen Stille gingen sie zum Büro von Herrn Weinbach, dem langjährigen Schulleiter. »Ahh Frau Buttler, da sind sie ja, nehmen sie bitte Platz.« Herr Weinbach hatte die Pedanterie mit Löffeln gefressen, und wenn sie könnte, würde sich selbst eine Atomuhr nach ihm stellen. Er führte die Schule mit harter Hand, konnte jedoch unliebsame Artikel in der Presse nicht verhindern. »Darf ich Ihnen Oberschulrat Scharnowski vorstellen.« Ein älterer Herr stand neben dem Tisch und schaute aus dem Fenster, während er seine Hände hinter dem Rücken hielt. Er drehte sich flüchtig zu ihr und nickte ihr zu, ehe der Direktor fortfuhr. »Ich möchte auch ohne Umschweife gleich zum Punkt kommen. Können Sie mir verraten, was das hier ist?« Er zeigte auf eine VHS-Kassette, auf der stand: ‚Die knallige Lisa sorgt für Sex beim Nachsitzen Vol. 34‘ Sie beäugte verwirrt die Schachtel. »Das haben wir in dem Videorekorder gefunden, den Sie zuletzt benutzt haben.« »Herr Weinbach, ich kann Ihnen versichern, dass...« »Nico Meyer aus ihrer Klasse hat mir schon persönlich versichert, dass Sie diesen Schund tatsächlich mehrere Male im Unterricht gezeigt hatten.« »Das ist eine Lüge, Herr...« »Ich habe mich mit Herrn Scharnowski verständigt, dass diese Schule keinen Skandal dieser Tragweite mehr vertragen kann. Ich weiß nicht, was Sie sich dabei gedacht haben und ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht. Sie sind hiermit fristlos entlassen und können sich morgen noch von Ihrer Klasse verabschieden. Die entsprechenden Unterlagen holen Sie sich dann bitte bei Frau Krane ab.« »Herr Weinbach, ich bitte Sie, das...« »Das ist alles, Frau Buttler, darf ich Sie nun bitten.« sagte er und zeigte mit ausladender Geste zur Tür. Karina taumelte aus dem Raum und erst später, als sie sich in ihr leeres Klassenzimmer gesetzt hatte, kamen ihr die Tränen. In dem Augenblick kam Hausmeister Norman zu ihr in den Raum. »Hey Karina, wie wär‘s, wenn wir heute... Was is‘n los? Is‘ was passiert?« fragte er überrascht und wirkte in dieser Sekunde tatsächlich nicht wie ein notgeiler Pavian auf Brautschau. »Die ham mich rausgeworfen.« schluchzte sie kopfschüttelnd und wischte seine Hand von ihrer Schulter, als sie daraufhin wortlos das Schulgelände verließ. »Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn de magst.« rief er ihr noch hinterher.
Als sie in der Straßenbahn nach Hause fuhr und das Mascara ihr Gesicht beschmierte, erinnerte sie sich an jenen Umschlag aus dem Lehrerzimmer. Sie nahm ihn aus der Tasche und fand ein Polaroid Foto darin. Das Bild zeigte ein Fenster hinter dem sie ihre Möbel erkannte. Sie drehte sich um und musterte ihre Umgebung. Ihre Finger liefen rot an, als sie das Foto in ihrer Hand zermalmte und quer durch die Straßenbahn warf, um auf dem kahlrasierten Hinterkopf eines Passanten, der sich daraufhin umdrehte und sie aufforderte, den Müll wieder einzusammeln. »Fick Dich!« platzte es mit der Eloquenz eines BILD-Redakteurs aus ihr heraus. Da sich der Passant als Kontrolleur entpuppte, lief sie den Rest der Strecke nach Hause. Vor der Haustür blieb sie kurz stehen und betrachtete die Fensterreihe gegenüber ihrer Wohnung. Ihr fiel es offensichtlich schwer, das Ausmaß der Situation richtig einzuschätzen. Verbarg sich hinter allem etwa ein harmloser Scherz eines vereinsamten Fotojournalisten, der nach einem Unfall durch ein Gipsbein an einen Rollstuhl gefesselt wurde und zunächst aus Langeweile mit seiner Kamera und Teleobjektiv durch das Fenster die Marotten seiner Mitmenschen beobachtete und dessen voyeuristisches Vergnügen schon bald der obsessiven Neugierde wich? Oder steckte doch ein bösartiger Sexualverbrecher dahinter, der ahnungslose Frauen mit Hilfe eines Schlips erdrosselte, sich selber der ‚Krawattenmörder‘ nannte und in ihr nun das nächste Opfer auserkoren hatte? Karina hatte keinen Schimmer und wollte es wohl auch nicht wissen. Kurze Zeit später ging sie in ihre Wohnung, setzte sich auf den Stuhl und drehte die Lautsprecherboxen auf. Sie tat das, was sie in solchen Situationen am liebsten tat: wie ein autistischer Epileptiker zum Takt ihrer Musik wippen und den ganzen Ballast verdrängen. Das Klopfen an der Tür bemerkte sie erst, als sie die Klänge gegen das Flimmern auf dem Bildschirm eingetauscht hatte. Vor ihr stand der Nachbar. »Hallo Karina, macht‘s Dir was aus, die Musik etwas leiser zu drehen? Ich muss morgen früh raus und wollte noch etwas Schlafsand abbekommen.« »Tut mir leid, kein Problem, sie ist ja auch schon aus.« »Danke. Sag mal, war bei Dir heute auch die Scharnowski in der Wohnung?« »Bitte? Wer?« »Die Vermieterin war heute mit irgendeinem komischen Kauz in meiner Wohnung und faselte irgendwas von nem Investor, der sich für das Haus interessierte.« »Hast Du den Mann gesehen, wie sah der denn aus?« »Den hab‘ ich nicht wirklich registriert. Das war glaub‘ ich ihr Mann aber die sind beide ziemlich schnell wieder abgedüst.« »Hmm, OK, danke dennoch und tut mir leid wegen der Musik.« »Kein Ding, schlaf gut!« Sie verriegelte die Tür zweimal, ging mehrfach durch die Wohnung, schaute mit einer Nagelfeile bewaffnet in die Schränke, um sich zu vergewissern, ob sich dort nicht ein geisteskranker Clown versteckt hielt. Überall ließ sie das Licht brennen und stieg kurz darauf in die Badewanne. Gerade als sie mit dem Schwamm über ihren Körper schrubbte, hörte sie, wie sich die Badtür öffnete. Starr vor Angst verharrte sie auf der Stelle, bis plötzlich mit einem Ruck der Duschvorhang aufgerissen wurde und sie eine Hand auf der Schulter spürte. Sie schrie lauthals und verlor das Gleichgewicht. Verzweifelt suchte sie Halt an den Kacheln, doch fiel sie mit dem Kopf voran über den Wannenrand. Ihr Kopf schlug gegen die Emaile des Waschbeckens. Benommen schlang sie ihre Hand um den Duschvorhang und versuchte damit sich aufzurichten. Der Duschvorhang riss Stück für Stück von der Duschstange. Der untere Teil von Karinas Körper lag noch in der Badewanne, während der obere Teil aus der Wanne heraushing und ihr Kopf auf dem Boden lag. Aus dem Duschkopf rieselten noch immer Wassertropfen auf ihre Beine und verschwand blutverschmiert in dem Wasserstrudel des Abflusslochs. Aus dem Nebenzimmer liefen die letzten Takte von Bernard Herrmanns The Murder aus dem Film Psycho.
Mit dem Klingeln des Telefons erlangte Karina wieder das Bewusstsein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht raffte sie sich auf und hielt ihre Hand über die Beule auf der Stirn. Wankend ging sie ins Wohnzimmer und griff zum Hörer. »Karina? Bist Du es?« wimmerte es von dem anderen Ende. Die Stimme musste sie wohl zuerst an einen vorpubertären Fan erinnert haben, der aufgelöst ins Telefon heulte, weil sich die Lieblingsband getrennt hatte. Doch es war ihre Mutter, welche sonst nur autoritär und einsilbig ins Telefon diktierte. »Mama? Ist was passiert? « „Ich glaub‘, jemand war in meiner Wohnung, hier ist alles verwüstet und ich weiß nicht ob sie noch da sind. Ich höre die ganze Zeit Schritte. Ich hab‘ solche Angst. Bitte, bitte komm‘ vorbei.« »Was? Ruf sofort die Polizei, hörst Du Mama? Ruf sofort die Polizei und geh zu Deinem Nachbarn. Ich komm‘ so schnell wie möglich vorbei!« »Gut, gut, bitte beeil Dich!« Karina legte auf und bemerkte erst beim Überstreifen ihrer Sachen den Gasgeruch in der Wohnung. Da das Atmen in der Küche unmöglich war, öffnete sie alle Fenster und griff abermals zum Hörer. Zweifelsfrei wollte sie die Polizei rufen, doch aus dem Telefonhörer dröhnte das Besetzzeichen. Hastig verließ sie die Wohnung und gerade als sie die Treppen hinab steigen wollte, hörte sie, wie die Kellertür aufsprang und Schritte durch den Hausflur hallten. Natürlich penetrierte sie den Lichtschalter stakkatoartig wie ein panisches Gnu vor den scharfen Klauen eines hungrigen Tigers, doch selbstredend blieb der Flur im Dunkeln. Die Schritte wurden immer deutlicher und kamen stetig näher. »Hallo? Wer sind sie?« rief sie und versuchte ihre Angst hinter einer klaren Tonlage zu verbergen. Als sie nun ein Summen hörte, schaute sie zwischen dem Geländer herunter. Sie sah die Konturen eines Mannes, der nun stehen blieb und nach oben schaute. »Guten Abend Frau Buttler. Ich hoffe Sie sind bereit.« sagte er und stieg die Treppen weiter hinauf. Karina wusste nun, dass dies nicht ein verirrter Sternsinger auf der Suche nach einer großzügigen Spende war, sondern ihre Situation nun unausweichlich auf das Grand Finale zusteuerte. Sie rannte ins obere Stockwerk und kletterte über die Leiter aufs Dach. Ohne diese vermaledeite Todesangst, wäre ihr sicherlich die tolle Aussicht auf die Stadt aufgefallen, die zu dieser Uhrzeit einfach umwerfend war, jedoch nicht so umwerfend, wie die Explosion, die sie kurz darauf zu Boden riss. Ihre Ohren schrillten und sie sah wie Rauchschwaden über das Dach aufstiegen und flackerndes Feuer die Straße erhellte. Vor ihr verflüchtigte sich das Yang des Ziegenhaarteppichs in den Nachthimmel. Schon kurze Zeit später hörte sie, wohl noch weniger erfreut, wie jemand die Leiter zum Dach hinaufstieg. Sie wich zum äußersten Rand des Daches zurück. Vor ihr baute sich der Mann aus dem Hausflur auf. Er trug einen Hut und einen grauen Regenmantel. Da der Hut tief ins Gesicht ragte, konnte sie nur seine Hasenscharte erkennen. »Was wollen sie von mir?!« schrie sie ihn an. Mit hoher Stimme erwiderte er: »Karina, habe ich Sie nicht gewarnt, sie versucht auf das Unvermeidliche vorzubereiten? Sie wussten doch, was passieren wird. Was jetzt passieren wird.« »Sie Freak! Ich kenn‘ sie nicht mal. Was wollen sie von mir?!« »Oh aber natürlich kennen Sie mich, meine Teuerste. Natürlich nicht so gut, wie ich sie kenne. Es enttäuscht mich ein wenig, dass sie sich nun überhaupt nicht an mich erinnern können aber ich denke, dass das der momentanen Situation geschuldet ist.« »Was soll die Scheiße?! Lassen sie mich in Ruhe sie krankes Schwein! Ich habe Ihnen nie was getan!« »Meine Teuerste, sie können sich nicht ausmalen, wie viel sie für mich getan haben. Tatsächlich bin ich Ihnen zum Dank verpflichtet und möchte mich auf diese Weise bei ihnen revanchieren.« »Was soll das?! Lassen sie mich gehen, sie widerlicher Psychopath!« Sirenen heulten unter ihr auf und Menschen säumten die Straße. »Oh Gott, da oben ist noch jemand, seht doch, da steht jemand!« rief eine Frau aus der Menge. »Hören Sie das, Karina? Sie sind da und damit sind wir am Ende ihrer Reise angekommen. Es ist nun an der Zeit sich zu verabschieden.« Der Mann griff in seine Tasche und zückte meine Pistole. »Bitte nicht! Hilfe! So hilft mir doch jemand!« krakelte sie. Mit dem Schlagen des Kirchturms schaute ihr vom Drehschwindel befallener Blick nach unten, wo die Flammen aus ihrem Fenster loderten. In dem Augenblick verlor sie das Gleichgewicht und fiel in die Tiefe.
Natürlich starb Karina nicht. So etwas hätte ich niemals zugelassen. Sie fiel in das Sprungpolster und bekam nur ein paar Prellungen ab. Bitte verzeihen sie, mir sind wohl meine Manieren abhandengekommen, da ich mich Ihnen noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Niklas Elster und meine Kindheit verbrachte ich unter der prügelnden Hand meines Vaters, der leider auf tragische Art und Weise in unserem brennenden Familienhaus ums Leben kam. Unglücklicherweise war ich nicht ganz gründlich bei der Beseitigung meiner Spuren und so verbrachte ich einige Zeit in einer geschlossenen Anstalt für geistig gestörte Schwerverbrecher. Dass dieser Ort nicht der erfreulichste Platz war, den man sich vorstellen kann, muss ich ihnen sicherlich nicht sagen. Zunächst fand ich großen Gefallen daran, einige Kleingeister in den Suizid zu treiben, doch mit der Zeit wurde mir die Einöde einfach zu viel und so entließ ich mich. 
Karina lernte ich vor einigen Monaten in einem Chat kennen und ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, was für eine besondere Person sie ist. Obwohl ich eingestehen muss, dass ich ihr meine persönliche Geschichte verheimlichen musste, aus Angst sie zu verschrecken. Doch mit der Zeit verflog ihr Interesse an mir und nur meine Faszination für sie blieb. Ich fing an ihr zu folgen, sie zu beobachten und konnte mich virtuell verdeckt mit ihr unterhalten. Schon bald realisierte ich, wie unglücklich sie mit ihrem Leben war. Die Plagegeister auf der Schule, die Einöde zu Hause und der Traum von Spanien, der so unsäglich weit in der Ferne schimmerte. Sie verdiente ein anderes Leben und da sie das nicht mit mir haben wollte, sollte sie dieses zumindest für sich haben.
Ich sorgte mit monetärem Anreiz dafür, dass Nico aus ihrer Klasse die VHS in das Videogerät platzierte und eine entsprechende Aussage vor dem Direktor tätigte. Des Weiteren erhöhte ich den Druck, indem ich mich als Journalist vor dem Schulleiter ausgab und erkundigte, ob es Usus ist, pornografisches Material an der Schule zu zeigen. Da ich wusste, dass Karina noch sehr an ihrer Mutter hing und sie niemals unbeaufsichtigt verlassen könnte, half ich ihr auch in dieser Sache. Sie glauben ja nicht, wie einfach es war, die gläubige Frau mit umgedrehten Kruzifixen zu verschrecken. Sie hörte vor lauter Angst noch Tage danach meine Schritte durch die Wohnung schreiten und das veranlasste sie, freiwillig in ein Heim zu gehen. Ich kannte Karina mittlerweile sehr gut und wusste, dass sich nach der Kündigung in ihre Wohnung verkriechen würde und früher oder später einknicken würde. So gab ich mich vor der Vermieterin als vermögender Investor aus und gelangte so in ihre vier Wände. Durch ihre Unterlagen fand ich heraus, dass sie eine Versicherung auf die Wohnung abgeschlossen hatte, die auch einen Brandfall abdeckte. Das war das letzte Puzzlestück.
Sie liegt momentan im Krankenhaus und es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Davon habe ich mich selbstverständlich persönlich überzeugt, natürlich nicht so direkt, wie ich es gerne hätte. Sie glaubt wohl alles verloren zu haben, doch gerade jetzt steht ihr nichts mehr im Weg. Ich schenkte ihr ein neues Leben, einen neuen Anfang. Sie kann nun ihre Träume erfüllen und ich werde ihr selbstredend weiterhin den richtigen Weg weisen. Ich möchte nun nicht unhöflich wirken aber wenn Sie mich doch bitte entschuldigen, ich muss noch meinen spanischen Wortschatz auffrischen.

2 Kommentare:

  1. Ich liebe so Geschichten! Aktueller Favorit. Vor allem weil es aus deinem Leben gegriffen sein könnte.

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  2. Hmm, der Kommentar war für die andere Geschichte gedacht... Die Geschichte ist natürlich auch sehr toll. Ich hoffe, der militärische Gruß ist eine Hommage. Wobei die Geschichte mir auch ein Angst macht...

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