Montag, 11. Juli 2011

Der Park (grausame überlange Konzeptversion)

Die Sonne wirft lange Schatten, als sie durch buntes Geäst streift und den Park in sanftes Orange taucht. Hier und da verweilen Menschen auf dem Gras oder den Bänken, während andere auf dem Parkweg flanieren. Die Vögel tanzen von Ast zu Ast und ihr Gesang verwischt die Unruhe der Stadt. Eine Ente lässt die Haut des Teichs Falten treiben, als sie sich nach ihrem Anflug zu ihren gefiederten Artgenossen gesellt. Zwischen den Bäumen und Büschen drängt sich ein Hügel zu einer Grasfläche hinauf, über die ein Mädchen mit Fahrrad eilt. Sie und ihr Rad heben kurz ab, als sie den kleinen Berg wieder hinunterfährt. Aufgeschreckter Flügelschlag durchdringt den Park, als ein Schwarm Tauben vor dem Zweirad entflieht und über die Köpfe eines Paares fliegt. Am Ende des Hügels biegt sie auf den Gehweg und passiert zwei Frauen auf einer Parkbank, während der Fahrtwind hinter ihr durch die Grashalme streift. Kurz darauf fährt sie an einem Baum vorbei, an dem ein Mann lehnt, ehe sie vor der Stadt an einem älteren Herrn vorbeizieht, der gekrümmt auf einer Bank sitzt.

Neugierig streunt der unbeschwerte Sommerwind über die mit Blüten besetzten Köpfe der Pflanzen und lässt kleine weiße Flugschirme durch die Luft tanzen. Die Befestigung der Achse schimmert matt im Mittelpunkt des Rades. Das Zahnrad darunter dreht sich rasend und unermüdlich vorwärts. In Ketten eingespannt, folgt es jenem ungezügelten Drang, der die Pedalen auf und abwärts treibt. Verschwommen hasten die Silhouetten der Reflektoren auf den Verästelungen der Speichen, während das Schutzblech über den rauen Belag des Radschlauchs stolpert. Auf dem Fahrrad sitzt das Mädchen, welches über die zerbeulte Grasnarbe des Parks eilt und dabei auf dem Sattel hin und her rutscht. Beide Hände umklammern die Rillen der Lenkgriffe, als ihre Arme von der Fahrt zittern wie der Muskel in ihrer Brust, der die Aufregung durch ihren Körper pumpt. Der Schweiß durchzieht ihr T-Shirt, auf das vereinzelte Bluttropfen von ihrem Kopf rinnen. Ihre Haare beugen sich dem Fahrtwind und sind doch so kurz, dass es aus der Ferne schwerfällt zu entscheiden, ob es sich um Junge oder Mädchen handelt. Aus ihren geweiteten Pupillen hasten die Blicke über die Grashalme und übersehen jedoch jene Spaziergänger, die vor ihrem drahtigen Esel zurückweichen. Als sie einen Hügel erreicht, lässt der Schwung des Fahrrads sie vom Boden abheben und einen erschrockenen Atemzug durch ihre Lungen ziehen. Verschwommen driften jene Erinnerungen an ihren Augen vorbei, als sie die knarzende Tür ihrer Wohnung öffnete und Sonnenstrahlen aus dem Flur in das Treppenhaus sprangen.
Von der Wandverkleidung schälte sich die Farbe und warf hallend die Schritte des Mädchens zurück, welche die Treppen hinab hüpfte, bis eine ältere Stimme sie zum Stillstand brachte. »Hey Tanzfee, wohin des Weges?« Sie lugte zwischen dem Treppengeländer nach oben und erwiderte: »Ach keine Ahnung Paps, einfach mal durch die Stadt fahren und schauen was da so geht.« »Bleib aber nicht allzu lange, wenigstens bis deine Mutter von der Arbeit zurückkommt.« schallte es in fürsorglicher Ernsthaftigkeit hinunter. »Abgemacht. Und du ziehst dir bis dahin was andres an, als den peinlichen Bademantel von Mama und schreibst nen bisschen an deinem Buch weiter.« »Hey, der ist pure Inspiration und außerdem ...« rief er ihr nach, doch sein Satz prallte unvollständig an der Haustür ab, die sie bereits mit einem Knall hinter sich geschlossen hatte.
Die schwelende Hitze flimmerte über dem Asphalt und die Sonne bedrängte ihre Augen zum Blinzeln. Sie löste die Kette des Fahrrads und bewegte es mit kräftigen Tritten die Straße entlang, ehe sie eine errötete Ampel wenig später zum Stehen zwang. Pulsierende Notenköpfe mit ausgestreckten Hälsen und flatternden Fähnchen trieben kurz darauf aus der Ferne in ihre Ohren. Umgehend schwenkte sie den Lenker um und folgte der Musik in ein abgelegenes Viertel. Gleich neben einem Café, das auf dem Gehweg seine Tische und Stühle ausbreitete, stellte sie ihr Rad ab. Sie lief unter einer Brücke hindurch, auf der die Straßenbahn hinüberpolterte und passierte den graffitiüberzogenen Beton der Häuser. Auf der Straße flanierte eine Vielzahl von Menschen unterschiedlicher Herkunft und begrüßte sich mit Umarmungen oder einem Lächeln. Musiker trugen ihre Instrumente auf verlebte Stuhlpolster und wischten sich den Schweiß von der Haut. Entlang des Fußwegs bräunte sich das Fleisch auf dem Grill und füllte die Luft mit seinem Geruch. Hier und da trieben die Ventilatoren die Hitze aus den Fenstern, durch denen einige Köpfe ragten und sich angeregt mit den Passanten auf dem Asphalt unterhielten. Auf einem Balkon spielten zwei ältere Männer in Unterhemden mit den Holzfiguren auf einem Brett. Immer wieder sprangen Kinder zwischen den Erwachsenen vorbei und brachten Bälle zum Hüpfen oder seifenumhüllte Blasen zum Schweben. Im rastlosen Durcheinander begegneten ihr hin und wieder einzelne Musiknoten von den probenden Künstlern.
Als sie durch die Straße flanierte bog sie wenig später um die Ecke und ihr Blick fiel auf eine kleine Menschentraube, die vor einer Musikergruppe tanzte. Auf der Treppe saßen vereinzelte Menschen und bewegten sich im Takt der Klänge. Für einige Momente hielt sie ihre Schüchternheit auf Abstand, ehe sie sich schließlich doch zu ihnen gesellte. Im Takt jener Musik, die die alltagsgraue Fassade mit losgelöster Melodie einfärbte, tauchte sie ein und tanzte. Als ein Hydrant seine Poren öffnete, fielen zahllose Wassertopfen herab und sie spürte jeden einzelnen Tropfen, der ihre Haut bedeckte. Kurz darauf erspähte einen Jungen, der sie von der Wand aus beobachtete und dessen Blick prompt zu Boden hastete, als sich ihre Augen begegneten. Sie ging zu ihm, umklammert seine Hand, zog ihn und sein überrumpeltes Gesicht in den Wasserstrahl und forderte ihn zum Tanzen. Seine Bewegungen waren zunächst ungelenk, als sie ihn an den Händen führte, bis er sich an ihre Nähe gewöhnt hatte, und mit dem Takt verschmolz. Zusammen tanzten sie in der Menschenmenge, die der Hydrant mit Wassertropfen übersäte, die sich danach glitzernd auf den Asphalt der Straße legten. Als sich die Musiker daraufhin in den Schatten zurückzogen, kamen die Musik und der Hydrant zur Ruhe. Der Junge stand vor ihr, hielt sie noch immer bei der Hand und wanderte mit seinen Augen über ihre roten Wangen. Sie betrachtete ihr nasses Kleid, ehe sie zu ihm hochschaute. Wortlos wurden ihre Blicke hin und zurück geworfen, während die Menschen an ihnen vorbei zogen. Er strich ihre Haarsträhne zur Seite und legte seine Lippen auf ihre. Ein Schweißtropfen perlte von seiner Nasenspitze auf ihre Haut. Sie wich von ihm und tat das, was jedes Mädchen ihres Alters in dieser Situation getan hätte. Sie ohrfeigte ihn und rannte weg. Eilige Schritte trugen sie daraufhin die Straße zu ihrem Fahrrad entlang.
Wenige Augenblicke später erreichte sie gleich hinter dem Krankenhaus den Park, über dessen betonierte Rasenbegrenzung sie kopfüber auf das Gras stolperte. Das Rad stand Kopf und ächzte, als sich das Hinterrad weiter in der Luft sich drehte. Grashalme übersäten ihre Hände und mit schmerzverzerrtem Blick griff sie sich an den Kopf. »Du musst schon aufpassen, wohin du fährst, das ist hier schließlich kein Spielplatz.« informierte sie ein Spaziergänger vom Bürgersteig. Flüchtig blickte sie zur Straße, ehe sie sich aufraffte, auf das Fahrrad setzte und voran preschte. Gerade als der Hügel ihr den Boden unter den Füßen nahm, wollte sie den Lenker umschwenken und zurück in das Viertel fahren. Jedoch sah sich nun mit dem Sprung und einer Taubengruppe direkt vor ihr konfrontiert. Sie landet mit beiden Rädern auf dem Gras, hört die Tauben davoneilen und daraufhin einen Schrei. Kurz dreht sie sich um und sieht einen Mann auf einer Decke mit erhobener Faust hinter ihr her rufen, ehe sie den Weg zurück in die Stadt sucht.

Im Geäst eines Busches verirrt sich eine rastlose Brise und löst ein Blatt von seinem ausgestrecktem Ast, das darauf zu Boden taumelt. Nicht weit entfernt umklammert eine Hand die andere und wiegt sich im leichten Schritt eines Paares, das über die Wiese spaziert. Der junge Mann mit dem Anzug von der Stange nimmt in seinem Arm die löchrige Decke in den Schwitzkasten, während ihn die Krawatte wiederum fest im Griff hält. Bestickte Blumen verzieren das Sommerkleid der Frau, das hier und da mit Fingerspitzen über ihre Beine streicht. Sie trägt einen Korb, hinter dessen Geflecht verträumt einige Dosen und Gläser schlummern. Ihre flippigen Badeschlappen machen immer wieder mit floppenden Geräuschen auf sich aufmerksam, wenn sie gegen ihre Fußsohlen schlagen. Das Paar erreicht den Grashügel, von dem aus der gesamte Park überblickt werden kann. Suchend wandern die Augen nach ihrem Platz auf der Wiese, bis die Abendsonne ihren ausgestreckten Finger erröten lässt und es freudetrunken aus ihr herausplatzt: »Dort, dort haun wir uns hin. Na komm schon!« Mit einem Ruck zieht sie den Mann hinter sich her, dem nichts weiter übrig bleibt, als ihr zu folgen.
Kurz darauf entfaltet er die Decke, durch deren Löcher verschmitzt kleine Grasbüschel herauslugen. Ständig landen seine Blicke auf dem rastlosen Zeiger der Armbanduhr, während er den Korb entleert. »Hastes etwa eilig?« erkundigt sie sich schmunzelnd. »Der Film fängt gleich an und wir müssen uns beeilen, wenn wir ihn nicht verpassen wollen.« Kichernde Küsse springen von ihren Lippen auf seine Stirn und vertreiben die Furchen. Mit einem Seufzer lässt sie sich danach auf die Decke fallen, streckt Arme und Beine aus, bevor sie mit ihnen ins Meer der Grashalme taucht. »Lass doch hier bleiben. Was für ein geiler Tag heute ist. Für den Geruch des Grases hier könnt‘ ich glatt sterben. Das riecht voll nach Sommer. Ich find den Park in dieser Jahreszeit so dufte. Wir sollten das viel öfters machen.« sagt sie und betrachtet, wie unbeschwerte Wolken auf dem Himmel entlangtreiben. Einige Augenblicke ziehen vorbei, bis er fragt: »Sag mal, bist du eigentlich zufrieden? Also, naja, bist du glücklich trotz der schäbigen Wohnung und den ganzen unbezahlten Rechnungen?« Sie dreht sich zu ihm und streichelt über seinen silbernen Ring. »Ja klar, das macht ja diese Momente hier so besonders. Es ist so befreiend mal aus dem Alltagskotz raus zu kommen. Ja und ebendrum bin ich glücklich, weil wir neben der Arbeit noch Zeit für uns haben. Alles ist fast so, wie ich‘s mir vorgestellt hatte.« »Fast?« erwidert er. »Naja, eigentlich fehlt zum Rundumsorglospaket nur noch unsre Wette. Fallste dich noch dran erinnern kannst.« Er überlegt kurz, bevor ein flüchtiges Lächeln über seine Lippen eilt. »Und dann wäre für dich alles perfekt? Dann wärst du wunschlos glücklich? « Sie antwortet mit einem Nicken.
In diesem Augenblick erreicht das Mädchen auf dem Rad den Grashügel und steuert mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf eine Vogelgruppe, die der geräderten Bedrohung nur knapp entkommen kann. Ihr aufgeschreckter Flügelschlag hastet über den Kopf des Mannes, der kurz darauf die Hinterlassenschaft der gefiederten Plage auf seinem Anzug erspäht. So verdreckt wie der Fleck, sind die Worte, die er dem Mädchen hinterher schleudert. Groll überzieht sein Gesicht, als er mit einem Taschentuch über den Makel auf seiner Arbeitskleidung scheuert. Als er vor ihrer ausgestreckten Hand zurückweicht, verfängt sich ein schaler Blick in ihren Augen, der sich entfremdet auf ihren Verlobten legt.
Verschwommen drängt sich jener vergangener Tag in ihre Erinnerung, als der Mond über die Dächer der Großstadt stieg und sich hinter aufgequollenen Wolken versteckte, die trächtig den Horizont füllten. Scharenweise drängelten sich die Schuhsohlen auf dem zertretenen Dreck des Bordsteins. Viele suchten Zerstreuung in diesen Gebäuden, die sich tagsüber mit dem tristem Grau der Stadt kleideten aber nun mit lauter Musik und bunten Farben überquollen. Unermüdlich warfen die Fahrzeuge grellen Schein auf den rissigen Belag der Straße, während sich ihr Lärm mit dem schweißgetränkten Geruch der U-Bahn vermischte. Auf dem Fußweg breitete ein kleines Café seine Tische und Stühle aus, auf denen die Stadtbewohner Platz fanden. Unter diesen geselligen Fremden saß auch das junge Paar. »Und jetzt Du! « sagte die Frau mit einem Grinsen. Der Mann musterte die Menschen um sich herum, bis er jemanden ausmachte.
»Der Herr dort, mit der gepflegten Wohlstandswampe und Frau am Tisch gegenüber, ist Landwirt. Seine Eltern, Gott habe sie selig, vererbten ihn einen Bauernhof samt Getier. Die Dame an seiner Seite trug früher einen wohlklingenden Familiennamen, der ein aufkeimendes Fernweh in der Brust auslöste, den sie vor einigen Jahren gegen die plump wirkenden Buchstaben ihres Ehemannes eintauschte. Heute ist es nur noch der hartnäckige Akzent, der die Wurzeln ihrer Herkunft verrät. Damit ist diese Mademoiselle keine käufliche Einwegbekanntschaft, statt dessen ist sie seine Ehefrau, die ihm nicht nur Schmetterlinge in der Magengegend, sondern auch eine Tochter bescherte.«
Er schwieg für einen Augenblick und beobachtete den älteren Mann, der sich mit der Frau unterhielt, unwissend gerade die Hauptfigur seiner Geschichte geworden zu sein. Nach einem Schluck aus dem Weinglas fuhr er fort.
»Da das Leben keine Aneinanderreihung von Seiten eines kitschigen Märchenbuchs ist, waren seine Schmetterlinge vor kurzem eine vom Aussterben bedrohte Metapher, weil ihm vielmehr Rechnungen ins Haus flatterten, als die kleinen Zeitgenossen im Magen. Es stellte sich heraus, dass das Lieblingspferd der Tochter ein reinrassiges Rennpferd war und so schleppte er das Pferd auf die Rennstrecke, platzierte sein gesamtes Geld auf den Vierbeiner und gewann. Das Haustier seines Sprösslings wurde zum Goldesel, was nicht nur Geld anzog, sondern auch die Aufmerksamkeit von Herrschaften in Nadelanzügen, die einen Anteil am Gewinn einforderten. Als konservatives Familienoberhaupt verschwieg er seiner Frau alles und unter dem Druck der Geldnot, Geheimnistuerei und Gefahr einer Kugel im Kopf schrumpfte seine Lebensfreude sowie Libido. Beides ging nicht unbemerkt an der vereinsamten Ehefrau vorüber. Die fehlende Nähe und der Besuch kleinwüchsiger Männern, die mit geheimnisvollen Blick in seinem Arbeitszimmer verschwanden, hatte für sie nur eine Bedeutung: die Neuausrichtung seiner sexuellen Orientierung. Diese Vorstellung trieb sie in eine Affäre. Was sie jedoch nicht wusste, war, dass es sich bei den kleinwüchsigen Männern mitnichten um die Ankunft an gleichgeschlechtlichen Ufern handelte, sondern um gierige Jockeys, die ein Stück Gewinn einforderten. Mit der Zeit wucherten ihm die Sorgen über das Gewissen und er stieg aus, ganz zum Missfallen der Nadelanzugsträger, die ihm einen Wink mit dem abgetrennten Pferdekopf zukommen ließen, den er eines Morgens in seinen blutdurchtränkten Bettlaken fand. Nun war der Mann völlig am Ende und fest entschlossen im Stall einen Schlußstrick zu ziehen. Doch ehe er unterhalb des Querbalkens baumeln konnte, traf er auf die Rennstreckenschurken, die beim Anblick des verzweifelten Ehemanns so gerührt waren, dass sie ihn überredeten sein Vorhaben aufzugeben. Als der Mann auf den Weg zu den Nadelanzügen war, rutschte er aus und fiel mit Schlinge um den Hals zu Boden. Da der Mann kein Geld für die Instandhaltung des Bauernhofs hatte, brach der marode gewordene Querbalken unter seinem Gewicht zusammen und landete mit dem jetzt unfreiwilligen Selbstmörder auf den verdutzten Verbrecherköpfen. Als der Mann wieder zu Bewusstsein kam, fand er im Schutt nicht nur gebrochene Genicke, sondern auch einen Koffer mit prall gefülltem Erpressergeld. Fassungslos vor Glück vergrub er die Schurken, das Pferd und ein dunkles Geheimnis, legte das Geld an und war seine Geldnöte los. Seine Frau hingegen war bereit ihren Mann zu verlassen, doch ihre Affäre ließ seit geraumer Zeit nichts mehr von sich hören. Da sie die ausgeprägte Lebensfreude und Libido ihres Ehemanns bemerkte, entschloss sie sich ihrer Ehe noch eine Chance zu geben. Doch die Ehefrau wusste nicht, dass ihr Liebhaber einer der Rennstrecken-Chefganove war, der zusammen mit seinen Schergen und dem abgetrennten Kopf des Lieblingspferdes der Tochter unter den Grashalmen ihres Gartens vergraben lag. Die Zwei feiern heute den Tag, an dem sie wieder zueinander gefunden haben und dass das Leben manchmal doch wie ein oder gar zwei Seiten aus einem kitschigen Märchen ist.«
Sie schaute ihn an und schüttelte mit einem Lachen kurz den Kopf. »Wow! Das hätt‘ ich jetzt nicht gedacht. « Mit genäselter Stimme erwiderte er: »Meine Teuerste, das Leben ist voller Überraschungen. Aber nun darf ich sie bitten, mir einen der Gäste vorzustellen. « Kurz beobachtete sie darauf die Leute auf den Stühlen und lenkte seinen Blick mit einem Nicken auf einen Jugendlichen, der alleine am Tisch saß und sich mit seinem Mobiltelefon beschäftigte.
»Also gut, der Typ dort ist nen Waise. Er floh vor den prügelgeilen Betreuern aus dem Heim. Er hielt sich mit Aushilfsjobs über Wasser. »Alles, was ich im Leben brauch‘, passt in meine Hosentasche« ist sein Motto. Gemeint ist das Foto seines Paps, das er immer bei sich trägt. Als er auf einem Bauernhof als Erntehelfer schuftet, findet er das Bild seines Daddys in der Brieftasche der Bäuerin. Die sieht ihm auch noch verdächtig ähnlich und beichtet alles. Dazu löhnt sie noch Schweigegeld. Doch das reicht ihm nicht, er will Vaters Tod rächen. Deswegen isser hier. Er plant, Paps Mörder und seine Mutter auszuradieren. Damit wird er heute nicht nur nen waschechtes Waisenkind, sondern auch bald einer der meistgesuchtesten Serienkiller des Kontinents.«
Sie hob ihre Augenbrauen, ehe ihn beide für eine Weile betrachteten, um jedoch schlagartig mit ihren Augen auf die Tischdecke zu flüchten, als der Jugendliche sie mit einem grimmigen Blick überraschte. Mit zusammengepressten Lippen murmelte sie: »Guckt er noch?« »Ich glaube nicht mehr.« antwortete er mit angestrengt. Abermals schreckten beide zusammen, als der Ober mit ahnungslos zu ihnen an den Tisch kam. »Ich hoffe es hat geschmeckt. Kann ich noch etwas bringen?« fragte er höflich und sammelte ihre Teller ein. Der junge Mann schaute zu dem Kellner, bis zwei Falten seine Mundwinkel umarmten und er ihm entgegnete:
»Sie mein werter Freund, führen ein Doppelleben. Auf der einen Seite sind sie der brave Anwalt für Familienrecht, doch da ihnen das Paragraphengeschubse die Einöde ins Hirn gebrandmarkt hat, sind sie auf der anderen Seite Schriftsteller frivoler Erotikgeschichten. Als ihre geliebte Großtante beim Sturz vom Rennpferd ums Leben kam, verarbeiten sie ihre Trauer mit der Fertigstellung eines des herzzereißensten Liebesromane aller Zeiten, der zum Bestseller avanciert und sie aus dem Paragraphenleben ausbrechen lässt. Da sie keine Großtanten mehr haben, die von Rennpferden fallen können, fehlt ihnen die Inspiration für einen neuen Bestseller. Daher arbeiten sie als Bedienung, um die Leute bei ihren Unterhaltungen zu belauschen und so neuen Stoff für ihr Buch zu sammeln.«
Der Kellner ließ seine Augen rollen und antwortete kurz: »Sagen sie mir einfach Bescheid, wenn ich ihnen noch etwas bringen kann.« und widmete sich schließlich einem anderen Tisch. Es fiel beiden schwer ihre Freude zu verbergen und so ließen darauf einige Momente wortlos vergehen. Schwungvoll streicht das Holz über die kleine Pappschachtel. Ein Funkenschlag bringt den Tabakstängel zwischen ihren Lippen zum Glimmen. Noch bevor sich ihre Lungen in Nebel hüllen können, stahl er den Glimmstängel und hielt ihn vor ihre Nase. Er schaute zu dem Jugendlichen mit Mobiltelefon, welcher sich mittlerweile der redseligen Gesellschaft eines Mädchens erfreuen konnte. »Genau wie der bald meistgesuchteste Serienmörder dieses Kontinents, hat dieser Sargnagel nur den Tod im Sinn.« und ließ die Zigarette zerknittert in den Aschenbecher fallen. Sie schloss kurz ihre Augen, als sich ein Regentropfen auf ihrer Stirn bemerkbar machte. »Gleich regnet‘s. Ich mag den Regen« »Du magst einfach alles.« entgegnete er mit einem Grinsen. Ein Atemzug wanderte durch ihre Nase. »Ja, ich find‘s ganz famos, wenn‘s abends regnet und so nen frischer Geruch in der Luft liegt. Dann duftet‘s irgendwie so lebendig und oft ist alles anders danach. Nicht immer besser aber anders. Das mag ich am Regen.«
Nach einer Pause verlor ihr Mund das Lächeln, als sie ihn fragte: »Was willste eigentlich mit deinem Leben mal machen? Also, nach der ganzen Ausbildung. Was haste dann vor?« »Oh, haben wir nun den ernsten Teil des Abends erreicht?« erwiderte er schmunzelnd. »Das ist korrekt und ich will ne Antwort haben mein Freund.« Er überlegt kurz. »Nun gut, das Einzige, was ich bis jetzt einigermaßen weiß, ist, dass ich frei von ständigen Sorgen sein möchte. Ich will die Welt nicht nur sehen, sondern auch fühlen. Ich, ich möchte die Dinge um mich herum spüren und begreifen. Anders kann ich das nicht erklären. Falls es für dich irgendeinen Sinn ergeben hat, dann ist es das, was ich mal in meinem Leben erreichen will. Wenn du Lust hast, kannst du gerne mitkommen, gerade wenn es um das Greifen von gewissen Objekten geht, kann ich jemanden wie dich gut gebrauchen.« Für einen Augenblick verlor sich ihr Blick in seinen Augen, bis sie nach einem Räuspern antwortete: »Nun, ich hab mir da jetzt ne Weile den Kopf drüber zermartert und ich bin mir sicher, dass ich was verändern will. Es ekelt mich nur noch an, wie wir mit unsrer Umwelt wirtschaften. Deswegen will ich da weit mehr tun, als mir halb geschenkte Sonderaktionen zuzulegen, die im Hall hypnotisierender Hintergrundsmucke zusammengefaltet zwischen bunten Produkten liegt. Ich will auch nicht nur an irgendwelchen Spendenmarathons zur Weihnachtszeit nen Groschen zubuttern und dann meinen zufriedenen Arsch bequem in die Sitzkuhle rollen. Ich will nen bisschen mehr als das machen. Auch wenn man da kaum Schotter für kriegt, ist‘s mir das trotzdem wert. Natürlich will ich auch irgendwann mal ne Familie gründen und wies grad aussieht, biste da meine erste Wahl.« Der Mann hob erschrocken seinen Arm und flüsterte mit schmerzverzerrtem Gesicht unhörbar in die Menge: »Herr Ober, die Rechnung bitte!« Hastig drückte sie seinen Arm herunter und fügte hinzu: »Ich mein‘ auch noch nicht jetzt, später mal, wenn wir beide so weit sind« »Nun, das hört sich machbar an, damit kann ich gut leben.« Als brodelnde Wolken sich über der Stadt bemerkbar machten und pralle Wassertropfen sich immer zahlreicher für den Sprung ins Freie entschieden, suchten die Gäste die Obhut des Cafés. »Ich verwette meinen Knackpopo, dass ich hier länger sitzen kann als du!« gab sie ihm herausfordernd zu verstehen. »Was ist der Einsatz?« fragte er interessiert. Sie nahm sich etwas Zeit, ehe sie erwiderte: »Ich sag dir was, wenn du verlierst, darf ich den Namen aussuchen.« »Und was springt für mich dabei heraus?« »Nun, falls du gewinnst, dann kann die Telefonzelle dort drüben heute Nacht ne anrüchige Story zu ihrem Erlebnisschatz hinzufügen.« Prompt reichte ihr der Mann die Hand und sagte: „Wir haben eine rechtsgültige Wette.« Inmitten des hektischen Treibens saß das Paar teilnahmslos am einzig besetzten Tisch und lieferte sich ein Blickduell, als der Regen anfing, auf sie herabzufallen.
Sie schließt ihre Augen, als ein Windzug den Geruch der Wiese in ihre Atemwege trägt. Noch immer reibt der Mann mit einem Taschentuch auf seinem Anzug. »Hey komm, ist doch nur nen Fleck, ist doch nicht so tragisch.« sagte sie. »Es ist eben nicht nur ein Fleck, damit muss ich morgen auf Arbeit, was ich dank der Göre komplett vergessen kann.« erwidert er wutgeladen. Sie wendet sich ab und schaut dem Mädchen auf dem Rad hinterher, das am Ende des Hügels an zwei Frauen auf einer Parkbank vorbeifährt. Es ist dieser Augenblick, als ihr Blick verloren auf ihren silbernen Ring taumelt, der jenes Versprechen hält, das sie nun nicht mehr halten kann.

Unweit des Parkwegs, löst sich welkes Blattwerk von den Baumverästelungen und taumelt zu Boden. Dort trägt sie ein Luftzug über ungezählte Grashalme mit sich, bis er eine Parkbank erreicht, um dort unter das Sommerkleid einer Frau zu fegen und es leicht aufzuwölben. Als sie erschrocken mit ihrer Hand über das Textil streicht, verflüchtigt sich die Brise zurück ins vergilbte Laub. Die Frau sitzt auf der Bank ohne Rückenlehne und umklammert den matt schimmernden Bügel des Kinderwagens, dessen Bremshalterung die Räder im Griff halten. Gespalten fallen die Haarspitzen in ihren Blick, welcher auf dem Parkweg haften bleibt und sich erst wieder der Bekannten neben ihr widmet, als deren Redeschwulst energischer wird. »Oh und ich sage dir, die Verkäuferin hatte nun wirklich gar keine Ahnung, von was ich da sprach. Sie sah mich einfach nur dümmlich an, bis ich auf das Parfum zeigen musste. Kannst du dir das vorstellen? In den Laden werde ich erst mal nicht mehr gehen.« plätscherte es aus ihrem Mund. Erneut lässt die Frau ihre Augen auf den Weg sinken und beobachtet die vorbeiziehenden Spaziergänger, ehe sie die Stille ihrer Bekannten bemerkt. »Bitte?« erkundigt sie sich. »Ich fragte, ob du schon weißt, wohin ihr in den Urlaub fliegen werdet? Ach, lass dich überraschen, ich habe vor einiger Zeit mit deinem Mann darüber gesprochen und ich kann dir versprechen, es wird dir gefallen. Das Hotel ist wirklich toll und die Animateure sind richtig schnucklig. Da kannst du deinen Mann nach Strich und Faden verwöhnen, du siehst ihn ja dank der Arbeit eh viel zu selten. Aber so ist das halt, das hat ja auch seine Vorteile. Apropos, ich muss los Schätzchen, noch ein bisschen shoppen gehen und paar Kleinigkeiten für das Abendessen besorgen. Ach ja, bei dem Supermarkt im Zentrum läuft gerade eine Sonderaktion. Man spart Geld und rettet noch den Regenwald oder so. Naja egal, wir sehen uns ja am Wochenende, bis dann!« Ein Lächeln zwängt sich in ihr Gesicht, als sich die Bekannte mit dick aufgetragenen Küsschen verabschiedet und einen aufdringlichen Geruch zurücklässt.
Nur kurz schaut sie ihren Schritten hinterher, ehe sie auf der Wiese einen Hund erspäht, der sich so lange im Gras wälzt, bis ihn der Besitzer mit gestraffter Kette weiterzerrt. Immer flacher wird der Atem, der aus ihrem Mund strömt. Sie blickt auf den leeren Platz der Parkbank, deren Holzbalken sich vor ihr in die Ferne ziehen. Der Schlag ihres Herzes beginnt zu rasen. Über ihr schießen die Wolken unentwegt am Himmel entlang. Schweiß perlt von ihrer Haut. Das Baby fängt an zu schreien. Ein Pfeifen bricht in ihrem Ohr aus. Die Umrisse der Spaziergänger hetzen vorbei. Ihr Blick schwankt zu Boden, der unter ihr wegbricht. Erst einige geschlossene Augenblicke später, als ihre Tochter zur Ruhe kommt, legt sich das Zittern ihrer Hände. Kurz darauf steigen Tränen in ihre Augen und mit ihnen, Erinnerungen an jenen Tag, als sie ihre Sachen in einen Karton packte.
Durch das Fenster zwängte sich die aufgestaute Hitze der Wohnung ins Freie, während der Schatten der Jalousie sich über die sonnengeflutete Wand des Schlafzimmers legte. Immerzu fiel die Tür des Kleiderschrankes zu, als sie ihre Kleider herausnahm und diese auf dem Bett verteilte. Ab und an wiederholte sie einige Sätze vor ihrem Spiegelbild und hinterließ sie auf einem Zettel. Als sie den Karton abschließend mit Klebeband versiegeln wollte, stolperte ihr Blick auf das Foto, welches auf dem Nachttisch ragte. Lange verweilte sie auf dem staubüberdeckten Überbleibsel ihrer Beziehung, ehe sie sich ruckartig krümmte und die Hand vor den Mund hielt. Sie ließ das Bild fallen und rannte ins Bad, von deren Tür daraufhin Würgegeräusche hörbar wurden.
Knarzend öffnete sie die Badtür und wankte in den Flur. Nur flüchtig sah sie ins Schlafzimmer, wo mittlerweile das Licht der Straßenlampe hineinstrahlte und sich eine lebhafte Brise an der Jalousie vorbeidrängelte. Sie fasste sich an die Stirn und brachte ihre Haare zum Schaukeln, als sie ihren Kopf schüttelte. Noch einmal betrachtete sie den Gegenstand in ihrer Hand. In diesen Moment platzte ihr Verlobter durch die Wohnungstür und umarmte sie. »Du glaubst nicht, was heute passiert ist.« sagte er mit einem Grinsen. Noch bevor sie ein Wort erwidern konnte, fuhr er fort. »Ich habe dir doch von dem wichtigen Kunden erzählt. Stell dir vor, der will mir den Auftrag geben und wenn das alles klappt, dann bekomme ich die Beförderung. Wir müssen nur dieses Wochenende mit ihm und seiner Frau essen gehen. Ich habe es einfach gewusst, dass es sich auszahlen, wird da dran zu bleiben. Endlich geht es aufwärts. Dann können wir auch aus dieser Wohnung raus, das ist der Beginn von etwas Neuem. Das ist doch großartig oder?« Da ihre Antwort ausblieb, löste er ihre Umarmung und wich einen Schritt zurück. »Was ist los?« Sie zuckte kurz mit den Schultern. »Ich bin schwanger.« »Bitte was?« erwiderte er lauthals. »Ich hab‘s auch erst seit heut‘ morgen rausgefunden.« »Du kannst doch jetzt nicht schwanger sein. Wie konnte das denn passieren?« »Ähm, ich glaub‘ du warst da auch mit von der Partie.« Er kratzte sich am Kopf. »Du bist schwanger?« erkundigte er sich nochmals mit ungläubiger Miene. »Jab.« »Bist du dir sicher?« Sie öffnete ihre Faust und zeigte ihm den Schwangerschaftstest. »Hier guck, da hastes rot auf weiß.« »Du bist schwanger!« krakelte er nach einem Moment. Mit gespanntem Ausdruck beobachtete sie, wie er auf und ab schritt und schließlich meinte: «Das kriegen wir hin.« Er übersäte ihr Gesicht mit Küssen, bis ein Lächeln heranwuchs. »Das ist prima, das schaffen wir, das kriegen wir hin.« wiederholte er immerzu und umarmte sie. »Was ist mit dem Karton dort?« fragte er, als sein Blick ins Schlafzimmer wanderte. »Ach, ich hab‘ den ganzen alten Kram rausgeworfen. Wir brauchen ja jetzt Platz für was Neues.« Sie strich mit ihren Fingerspitzen über seinen Rücken und sagte anschließend: »Ich kann ja dank der Wette sogar den Namen wählen.« Sein Lächeln zerbrach daraufhin am Fensterglas, hinter der das Licht der Großstadt pulsierte.
»Tschuldigung junge Dame, is‘ hier noch frei?« erkundigt sich ein Mann und zeigt auf die Parkbank. Als sie ihm noch abwesend zunickt, setzt er sich zu ihr. »Was für ein dufter Tag heute is‘, ich könnt‘ Stunden hier hocken und einfach nur den Leuten zuschauen, ohne dass was passiert, nur die Sonne genießen und alles andre mal sein lassen.« Sie wischt ihre Traurigkeit aus den Augen und schaut kurz mit erstauntem Blick zu dem Mann, der mit einem verschmitzten Grinsen auf den Teich blickte. »Die Luft is‘ hier auch anders, ich finde, jeder müsste dazu verpflichtet werden, mindestens einmal in der Woche hier herzukommen. Damit würden auch die nörgelnden Säcke in der Stadt verschwinden.« Ein Lächeln blüht in ihrem Gesicht auf. »Es ist lange her, dass ich das jemanden sagen gehört habe.« »Wirklich? Dann sollte ich vielleicht mal öfters vorbeikommen.« Sie streicht sich durch ihre Haare und beobachtet, wie das Mädchen auf dem Rad mit schlackernden Armen auf dem Gehweg an einem Baum vorbei eilt an dem sich ein Mann anlehnt, ehe sie erwidert: »Ja, vielleicht solltest du das.«

Eine Böe zieht über den Teich und verdrängt mehrere Staubkörner von dem Parkweg, über den die Spaziergänger wieder zurück in die Stadt finden. Wenige zertretene Grashalme weiter, sitzt ein Mann an einen korpulenten Baum gelehnt, dessen Wurzelstock stellenweise aus dem Boden ragt. In seinem Schatten lässt eine kleine Gänseblumengruppe unter der Last des Sakkos die Köpfe hängen. Die Ränder unterhalb seiner Augen ziehen einsame Runden. Sonnenstrahlen verfangen sich in seinen Haaren und selbst graue Härchen, die sich sonst hinter ihren jüngeren Artgenossen verstecken, baden sich im weichen Schein des müde gewordenen Sommers. Der Windsor Knoten hat seinen Würgegriff gelockert und die über die Schulter geworfene Krawatte flattert im Wind, wie die Zunge eines Labradors, der bei einem Sommerausflug den Kopf aus dem Fenster streckt. Bis zu den Knöcheln ist seine Hose umgekrempelt, während sich die Schuhe mitsamt den Socken über der Wiese verstreut haben. Eingebettet in kitzelnden Grashalmen massieren seine Fußzehen die Erde. Der Kopf ruht auf der zerfurchten Rinde und seine Atemzüge tragen jene Leichtigkeit in die Nase, die um ihn herum durch den Park treibt. Mit seinen Augen wandert er über das Gras und bleibt bei einem jungen Paar hängen, das sich neben dem Teich niedergelassen hatte. Mit einem Stift kritzelt er einige Worte auf ein Stück Papier, mit dem er gleich darauf eine aufdringliche Biene verjagt. Ein Klingelton löst seinen Blick und er zieht ein Mobiltelefon aus seiner Tasche. Er betrachtet das verpixelte Foto, das aufgeregt auf dem Bildschirm flackert und streicht mit seinem Daumen über das Bild eines lachenden Mädchens. Verschwommen erinnert er sich an den Abend, als ihn der Portier wie gehabt mit falschem Namen in der Lobby begrüßte.
Fresken verzierte Wände zogen an ihm vorbei, als er die Marmortreppen ins oberste Stockwerk emporstieg. Das Namensschild warf die verzerrte Spiegelung seines Gesichts in den Flur, während er mit schroffen Handbewegungen versuchte, den Schlüssel in das Schloss zu drängen. Mit einem kräftigen Ruck gewährte ihm die Tür schließlich Einlass und in der Wohnung streifte er seinen mit Nadelstreifen übersäten Anzug ab, der kurz darauf am Kleiderständer baumelte. Er passierte die Küche, in der leere Verpackungen von Tiefkühlkost auf dem Tisch herumlungerten, sowie verschmutztes Geschirr sich im Waschbecken auftürmte. Mit dem Kopf lugte er anschließend ins Kinderzimmer und betrachtete mit einem Lächeln die schemenhaften Umrisse seiner Tochter, die bereits auf dem Bett eingeschlafen war. Auf dem Fußboden erspähte er Bilderbücher, Spielzeugpuppen und Ballerina Schuhe, die verstreut in dem Lichtkegel der offenen Tür lagen. Er schloss ihre Tür und schlenderte ins Wohnzimmer.
Durch den angelehnten Spalt des Fensters dröhnte dort in hektischer Gewohnheit der Großstadtlärm in den Raum. Seine Frau saß an dem Glastisch mit einem gefüllten Aschenbecher und einigen Zigarettenschachteln. Er setzt sich zu ihr gegenüber und suchte ihren Blick, der jedoch abwesend an der Fensterscheibe verweilte, die der Nieselregen mit feinen Tropfen benetzte. Wortlos verstrichen die Momente, bis er schließlich fragte: »Wie war dein Tag?« Noch immer wendete sie ihren Kopf in die andere Richtung, bis sie nach einer Pause kurz mit den Schultern zuckte. »Wie immer halt.« Erneut füllten sich die Augenblicke mit Stille, bevor sie mit desinteressierter Tonlage hinzufügt: »Und, wie war dein Arbeitstag?« »Das Übliche, wir hatten viel Ärger mit der Datenbank und noch Probleme mit den Klienten.« Er hielt einige Zeit inne und ließ seine Augen nervös über den Tisch springen. »Hör zu, wir haben diesen Auftrag bekommen, und da die Zeit knapp wird, muss ich noch ein paar Extraschichten einlegen. Das heißt, dass ich dieses Wochenende wieder arbeiten muss und nicht mit zum Auftritt kann. Nächste Woche habe ich mir einen Tag freigehalten und da können wir in den Park gehen, wenn du magst.« Das entzündete Feuer brannte sich rasch ins Papier und ließ den Tabak ihrer Zigarette knisternd aufglühen. Mit abgewandtem Blick schüttelte sie den Kopf und entgegnete: »Das ist nicht das, was ich wollte.« »Wenn du lieber ins Schwimmbad gehen möchtest, dann können wir auch dahin.« »Das mein‘ ich nicht. “Verwirrt betrachtete er sie und fragte: »Und was genau meinst du denn?« »Das hier, das Ganze hier, ist nicht das, was ich wollte. Deine beschissne Arbeit ist dir wichtiger als deine eigene Familie. Du bist so oft dort, dass wir dich fast nur an Wochenenden bewundern können, wenn überhaupt. Du verbringst einfach nicht genug Zeit mit uns.« erwiderte sie ihm mit, als sie ihn mit ihrem Blick konfrontierte. »Mit dieser beschissenen Arbeit bezahle ich immerhin unsere Rechnungen und diese Wohnung hier. Ich reiß mir Tag für Tag meinen Arsch auf, damit wir ein besseres Leben haben können und etwas Unabhängigkeit von den ganzen Sorgen. Denkst du das mache ich für mich? Glaubst du, dass das mir Spaß macht? Das mache ich nicht für mich, sondern für euch.« sagte er entschlossen. »Ja ich weiß, dass du das alles für uns machst, aber das reicht nicht. Mir isses scheißegal, wo wir wohnen oder wohin wir im Kurzurlaub fliegen. Ich brauche keine rotzige Bonzenwohnung, um glücklich zu sein. Was ich brauche, ist jemand der für meine Tochter und mich da ist. Gerade sie braucht dich. Sie braucht ihren Vater so sehr und es bricht mir jedes Mal aufs Neue das Herz, wenn ich ihr erzählen muss, dass ihr Vater null Zeit für sie hat, weil er arbeitet. Ich bin es, die ihr klar machen muss, dass ihr Papa sie noch lieb hat, obwohl er es noch nicht einmal zu ihren verdammten Auftritten gepackt hat. Sie hat weit mehr als das verdient. Du bist nicht hier, wenn es drauf ankommt. Du bist einfach nie hier.«
Mit einem Zug drängte sich der aufgestaute Zigarettenrauch zwischen ihren schmalen Lippen ins Zimmer, bis sie mit wütender Stimme fortfuhr. »Weißte, ich hab‘ schon lange diese Zweifel mit mir rumgeschleppt aber doch irgendwie noch gehofft, dass sich was mit ihrer Geburt ändern wird, doch stattdessen wurde alles nur noch schlimmer. Du bist vor all dem weggerannt, weil du Schiss hattest« »Bitte? Vor was, vor was hatte ich denn Schiss?« entgegnete er barsch und lehnte sich mit verschränkten Armen in den Stuhl zurück. »Du hattest Angst, dass du deine Ziele nicht auf die Reihe kriegst und wir dich dran hindern würden. Aber ich hab‘ meine Träume auch zurückgestellt, weil ich dachte, dass wir das zusammen schaffen und irgendetwas Neues bauen. Meinste, dass mir das leicht gefallen ist? Mich kotzt es an, jeden Tag hier rumzuhängen und mit dir abends nur verdreckten Smalltalk zu machen, bis de dich ins Bett verdrückst. Das ist unfair. Wieso musste ich so vieles aufgeben, wenn du keinen müden Schritt in meine Richtung kommst. Es widert mich einfach an und wie es jetzt ist, geht‘s keinesfalls mehr weiter mit uns.« Einen Moment lang beobachtete er wortlos, wie sie die mittlerweile verstümmelte Zigarette im Aschenbecher zerdrückte. Zwischen ihnen war nichts weiter, als das Schweigen und trübe Rauchschwaden, die durch das schale Licht der Deckenlampe trieben.
Nach einer Weile sagte sie mit einer beruhigten Tonlage: »Ich merk‘ doch, dass du auch unglücklich bist. Jeden Abend bleibste einige Minuten im Auto sitzen, bis du in die Wohnung kommst. Diese ganze Situation ist doch für uns beide nicht okay.« Er streckte seine Hand zu ihr aus und streichelte mit dem Daumen über den Ring. »Es tut mir leid, das wusste ich nicht. Alles was ich wollte, war, dass es uns allen gut geht. Das wir uns keine Sorgen um irgendwas machen müssen. Lass uns nochmal von vorne anfangen, ich werde versuchen weniger zu arbeiten und mehr Zeit mit euch zu verbringen.« Sie zog ihre Hand zurück und erwiderte leise: »Das geht nicht mehr.« Nur kurz betrachtet er seine Hand auf dem Tisch, bis er sie fragend fixiert. »Was meinst du damit?« Sie wendete ihren Blick ab und beobachtete, wie die mittlerweile zahllosen Regentropfen an der Fensterscheibe zerplatzten und glitzernd das Licht der Stadt widerspiegelten. »Was meinst du damit?« »Ich habe jemanden kennengelernt.« antwortete sie zögerlich. »Was?« fragte er entsetzt. Hastig wischte sie sich eine Träne aus ihrem ausdrucksleerem Gesicht und wiederholte stockend: »Ich habe seit einiger Zeit jemanden kennengelernt, einen anderen Mann.« Sein Mund öffnete sich leicht und nur langsam lösten sich die Lippen voneinander. »Ich fühl‘ mich nicht mal schuldig, nur musste es irgendwann mal so kommen, es war falsch diesen Weg zu gehen. Bitte versuch‘ das zu verstehn, ich bereue keins der Jahre, die ich bei dir war, nicht eins davon. Ich hab‘ dich geliebt, seit ich nen kleines Mädchen war und das wird sich auch nie ändern, nur muss ich mit dem Ganzen hier aufhören. Ich muss wieder so leben, dass es mir gut tut, genau wie du und ich hoffe dass du das irgendwann mal kannst. Es tut mir leid für unsre Tochter. Wir können ihr das nicht mehr antun. Du warst nie hier, du bist einfach nie hier.« sagte sie im klaren Tonfall. Unentwegt versucht er in ihr Gesicht zu sehen, doch die wogende Bestürzung ringt seinen Blick immerzu nieder. Tränen stiegen in seine Augen, während seine Stimme wankend nach Worten suchte. »Ich kann nicht bleiben.« entwich es schließlich zerbrochen aus seinem Mund. Er schiebt den Stuhl zurück und lässt die Wohnungstür ins Schloss fallen, die sich kurz darauf wieder einen Spalt öffnet.
Stetig drängelt sich der lauter werdende Klingelton zurück in sein Bewusstsein und noch einmal streicht er mit seinem Daumen über den Bildschirm, bevor er das Gerät verstummen lässt. »Papa?« ertönt es aus dem Hörer und lässt lachender Falten um seine Augen aufblühen. »Hey, meine kleine Tanzfee.« sagt er, während er sich mit einem Seufzer aufrichtet und dem im Gras liegenden Sakko den Rücken kehrt. »Oh, verzeih mir, natürlich bist Du schon lange nicht mehr klein.« erwidert er schelmisch ins Telefon und fügt hinzu: »Ich bin bereits auf dem Weg, in ein paar Minuten werde ich da sein.« Nach einer Pause antwortet er ihr: »Ja, diesmal bleibe ich.« und spaziert mit seiner Tochter am Ohr barfuß über das Gras Richtung Stadt. Mit einem Lächeln betrachtet er, wie das Mädchen auf dem Rad an ihm vorbei zieht und kurz danach einen älteren Mann auf einer Parkbank passiert.

Müde schleppt der Abendwind die weichenden Sommertage über vergilbtes Gras auf eine schattenspendende Baumkrone. Nur unweit entfernt sitzt ein alter Mann gekrümmt auf einer Parkbank. Seine gestutzten Haare tragen, wie das Hemd, die Farbe längst vergangener Tag. Vernachlässigte Bartstoppeln säumen sich auf sein mit Falten überzogenes Gesicht. Die rostigen Zahnräder seiner Armbanduhr drehen sich nur noch mühsam und verfälschen die Zeit auf dem Ziffernblatt. Alles, was er noch hat, sind die auf Papier entwickelten Erinnerungen, welche er zusammengefaltet in seiner Hosentasche trägt. Sein Gehstock ist von der Bank ins Blätterdickicht unter der Bank gefallen. Sein Holz ist mit zahlreich bunten Plaketten verziert. Beide Hände ruhen auf dem Schoß, eine Hand umklammert die andere, während sein Daumen über das Gold des Ringfingers streicht. Starr haftet sein Blick auf dem schattenüberzogenen Parkweg, den vereinzelte Sonnenstrahlen durchlöchern. Hin und wieder murmelt er leise Worte, die jedoch ungehört in dem Treiben des Parks verwirken. Er löst seine verblassten Augen nur dann vom Boden, wenn die flüchtigen Silhouetten der Spaziergänger auf dem staubigen Pfad an ihm vorbeiziehen. Sein Kopf drückt den Blick erneut zu Boden und füllt sein Bewusstsein mit Erinnerungen an jenen Tag, als der Gehstock seine gebrechlichen Schritte durch den Krankenhauskorridor trugen.
Ein Mann mit weißer Kutte begrüßte ihn und erkundigte sich nach seinem Befinden, welches er mit einem mürrischen Raunen erwiderte und weiter dem Gang folgte. Mit einem Büschel Grashalmen betrat er das Krankenzimmer, in dem nur einige Betten belegt waren. Der Geruch desinfizierter Vergänglichkeit kroch prompt in seine Nase. Seine Begrüßung wurde nur von dem erschöpften Lächeln seiner Frau beantwortet, die am Fenster lag, hinter dessen Glas sich der feuchte Beton türmte. »Ich habe dir was aus dem Park mitgebracht« sagte er und reichte ihr ein Stück grünen Wiese, von der noch etwas Regen perlte. Als sie mit ihren Fingern und Nase durch das Gras strich, betrachtete er sorgenvoll, wie das medizinische Gerät Flüssigkeit durch Schläuche in ihren Körper tropfen ließ. Ihre zitternde Hand legte das Bündel auf den Tisch, wo bereits ein aufgeschlagenes Buch mit ihrem Familiennamen, eine aschenbecherdicke Brille, sowie mit Holz umrahmte Schnappschüsse einer jungen Familie lagen. Er setzte sich zu ihr, zupfte die Bettdecke zurecht und fuhr mit seinen Fingerkuppen durch ihre vergreisten Haare. Erst jetzt bemerkte er die Spielzeugpuppe neben dem Bett. »Die Beiden warn heute Morgen kurz mit den Zwillingen da.« kam sie seiner Frage zuvor. »Sie könnte dich ruhig öfters besuchen kommen. So weit ist das nun wirklich nicht für sie.« Sie pochte einige Male mit ihrer Hand auf seinen Handrücken und erwiderte: »Mutter zu sein nimmt ne Menge Zeit in Anspruch.« Er nickte kurz und ließ seinen Kopf etwas sinken, worauf sie seine Hand umgriff. »Sie machten einen zufriedenen Eindruck. Der Klene ist richtig schüchtern und versteckte sich ständig hinter dem Rockzipfel unserer Tochter. Ganz anders als seine Schwester, die überhaupt nicht aufn Mund gefallen ist. Die Klene ist voller Energie und erinnert mich ein bisschen an dich.« Ein Lächeln breitete sich auf seinen Falten aus. »Bist du glücklich?« fragte sie ihn schwach. »Die verdammten Treppen treiben mich zur Verzweiflung, genau wie der Nachbar, der mir jeden Abend bei seinem Liebesspiel den Putz ins Wohnzimmer purzeln lässt. Der hat immer eine Andere. Ich könnte wetten, dass der ist ein gewiefter Auftragsmörder ist, der seine Opfer mit der Aussicht auf ein sexuelles Abenteuer in seine Wohnung lockt und ihnen dann stattdessen einen finalen Coitus interruptus schenkt. Ich befürchte, dass er mir auf die Schliche gekommen ist und mich eines Tages mit der Unterwäsche eines seiner Verblichenen zur Strecke bringen wird.« »Du und deine Geschichten.« entgegnete sie mit einem Grinsen. »Natürlich vermisse ich auch dein ohrenbetäubtes Schnarchen nachts neben mir.« fügte er hinzu. »Dieses Schnarchen hat schon die Hälfte der Leute hier aus dem Zimmer vertrieben.« antwortete sie, was beide zum Schmunzeln brachte.
Es ist jener Moment, in dem sich ihre Blicke begegneten und wortlos hin und zurück geworfen wurden. Wenige Augenschläge verstrichen, bis er sie schließlich anlächelte. Erschöpft erwiderte sie das Lächeln, das ein ausgebrochener Husten zerbrechen ließ und ihr Gesicht vor Schmerz entstellte. Das Metallgestell des Krankenbettes erzitterte, als ihr ganzer Körper von ruckartigen Wellen durchzogen wurde. Verzweifelt schaute er in ihre hilfesuchenden Augen, während er ihre zuckende Hand umklammerte. Mit flehender Stimme wiederholte er: »Ich bin hier, ich bin hier!« Immer wieder bäumte sie sich leicht auf und ihre Augen verdrehten sich vor Qualen, um letztlich an der Zimmerdecke verharren zu bleiben. Das keuchende Stöhnen wurde stetig leiser, ehe ihr Körper nach gab und sich schlaff auf das Bett senkte. Nur wenige Atemzüge entwichen ihr noch, bis ihr aus dem Leben entrückter Blick das Zimmer mit Stille füllte. Als die Krankenschwestern in den Raum eilten und das Bett mit einem Vorhang den anderen abtrennten, blieb er über ihr gebeugt sitzen und hielt die Hand seiner atemlosen Frau umklammert. Dabei strich er mit seinem Daumen über ihren goldenen Ehering und flüsterte: »Ich bin hier, ich bin hier.«
Seine Augen öffnen sich und schauen kurz auf, als das Mädchen mit dem Rad klappernd über welkes Laub auf den staubigen Parkweg biegt und an ihm vorüberzieht. Er blickt ihr einige Zeit hinterher, bis er sie nicht mehr ausmachen kann und sein Blick wieder zu Boden fällt.
Das Sonnenlicht erlischt hinter den Häusern in der Ferne und mit ihm der Gesang der Vögel. Die Lichter der Stadt mitsamt dem stumpfen Lärms überziehen nun den Park, den die Menschen nach und nach verlassen, um ihn schon am Morgen mit neuem Leben zu füllen.

2 Kommentare:

  1. Ausgedruckt und mir damit eine Zugfahrt versüßt. Sehr gute Geschichte!

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  2. Danke, die ist leider noch viel zu aufgebläht und übergewichtig wie ein japanischer Sumoringer, daher wird die noch entschlackt werden.

    Aber dennoch danke Karina!

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