Sonntag, 24. Juli 2011

Das Problem Nummer 2

Ich erinnere mich noch genau an diesen einen Abend im Sommer, als unsere Clique zusammen in dem Café saß und wie sich wenig später herausstellte, sollte sich für mich einiges danach ändern. Aber fangen wir von vorne an.
»Das letzte Album stieg zwar in die Top Ten ein aber muss für ihre Verhältnisse als suboptimal bewertet werden.« äußert sich Matze mit monotoner Stimme, während er seine Brille zurechtrückt. »Genau.« erwidere ich. »Mhm.« fügt Holger kurz und bündig hinzu. »Seit sie ihren Stil von Indie Rock auf Pop wechselten, verloren sie eindeutig ihr vorzügliches Fluidum.« holt Matze weiter aus. Diesmal beschränken wir uns auf ein zustimmendes Nicken und streunen abwesend mit den Blicken durch das Café. Es handelt sich hier weniger um eine wortgewandte Diskussion dreier Studenten auf dem Zenit ihrer intellektuellen Reife, sondern vielmehr um das angespannte Warten auf eine anstehende Schlacht um das Vorrecht der Begattung. Sabine, die die Clique komplettiert, hat sich mit einer Freundin angekündigt und das Prekäre daran ist, dass sowohl Holger als auch ich ein kopulierendes Auge auf sie geworfen haben. Da sich für keinen von uns bisher die Gelegenheit ergeben hatte, sie von unseren Qualitäten zu überzeugen, wird sich in wenigen Augenblicken klären, wer das Rennen für sich entscheiden kann.
Holger strebt cum laude in BWL an und möchte eines Tages Union Berlin zum Ruhm alter Tage führen. Holger ist nicht nur gutaussehend, sondern hat auch noch Erfolg bei den Frauen und reiche Eltern. Zudem darf er einen muskulösen Körper sein Eigen nennen, den er ohne Bedenken halbentblößt nachts zur Schau stellen könnte, wenn es an der Tür klopften würde, während ich stets darauf bedacht war, noch schnell ein T-Shirt über meine Wohlstandswampe zu ziehen. Ich hasse ihn. Holger trägt ständig enge Leibchen mit tiefem Ausschnitt, an denen meistens eine Sonnenbrille befestigt war. Heutzutage benötigt der edle Modemensch ganz besondere Sonnenbrillen, die müssen nicht nur billig aussehen, wie aus einem Spielzeugwarenladen, sondern zugleich noch von einem namhaften Designer stammen. Wäre man ein pingeliger Zeitgenosse, könnte man sicherlich berechtigt hinterfragen, was eine Sonnenbrille an einem Abend für eine Funktion erfüllt, außer die eigene Selbstgefälligkeit zu repräsentieren.
Matze studiert Informatik und ist der Aiman Abdallah der Clique, der gerne eine Unterhaltung oder humorvolle Pointe mit seinem Redeschwall unterbricht, um diese in den korrekten faktischen Rahmen zu rücken. Matthias, wie er cliquenextern genannt werden möchte, hat bis zu dem heutigen Tag noch keine weibliche Aufmerksamkeit erleben dürfen, außer die der Mutter. Er ist stets darauf bedacht, dieses durch entsprechende Kleidung und verklemmtes Verhalten weiter aufrecht zu halten.
»Die Basselemente wurden auch vollständig aus ihrem musischen Repertoire gestrichen, was ...« »Da! Sie sind da.« unterbreche ich rüde Matzes Rezitation, denn erspähe ich Sabine und das Objekt der Begierde auf dem Gehweg gegenüber. Ich verspüre ein Kribbeln in meinem Magen, das sich bis in die Fingerspitzen hinauf zieht. Holger nickt mir mit einem blasierten Grinsen zu und nuschelt noch: »Viel Erfolg, Fabian.«, ehe er aufsteht und beide mit einer Umarmung begrüßt. Ein Fehler. Denn versorgte mich Sabine am Tag zuvor mit exklusiven Informationen über ihre Freundin.
Sie arbeitet als Bürokauffrau in einem Unternehmen für Naturdünger und ist eher in der Kategorie Frau anzusiedeln, die ganz konservativ nach dem langen Arbeitstag des Mannes zu Hause mit einem warmen Abendessen und zweistelligen Wortschatz wartet. Die sich zwar hin und wieder über fremde Telefonnummern in der Hosentasche oder Lippenstift auf dem Hemdkragen beschwert, sich aber letztendlich freimütig wieder ihrem Platz am Herd widmen würde. Warum ich also hinter so einem Relikt der Rollenverteilung her war? Der Grund kann nur durch meinen unsäglichen Trieb erläutert werden, denn hatte diese junge Frau einen üppigen Vorderbau. Ich schätze ihn auf Körbchengröße C. Doppel D entstellt nach meinem Geschmack viel zu sehr die Schönheit eines weiblichen Körpers, wobei Größe A und B für mich nur ein klassisches Understatement darstellen, ohne jegliche Zusatzfeatures. Sabine verriet mir auch, dass ihre Freundin keine körperliche Nähe zu fremden Personen mag.
Dementsprechend flüchtig fällt auch ihre Umfassung aus, ehe ich ihr höflich distanziert und mit herzerwärmenden Lächeln die Hand reiche. Als wir uns an den Tisch setzen, unterläuft mir diesmal ein folgenschwerer Lapsus, denn trete ich die Initiative an Holger ab, der sich prompt neben die Angebetete platziert und mir den undankbaren Platz zwischen Sabine und Matze übrig lässt.
In diesem Augenblick erreicht der Ober unseren Tisch und fragt uns genäselt, mit welchem Getränk wir denn gedenken, den Abend anzugehen. Noch ehe die Freundin von Sabine ihre Entscheidung mitteilen kann, fährt Holger dazwischen. »Sie möchte bestimmt einen Cuba Libre.« schmalzt er. Sie schaute ihn überrascht an. »Woher weißten das?« Ein verlogenes Schmunzeln dümpelt in seinem Gesicht. »Ach, Du magst den auch? Ja was für eine überraschende und tolle Gemeinsamkeit wir da doch haben.« Sie lächelt ihn an, womit ich meinen wutgeladenen Blick auf Sabine hageln lasse, die ihren Verrat mit einem lapidaren Schulterzucken zu entschuldigen versucht.
Sabine war der UHU-Alleskleber der Clique und hält alle zusammen. Sie studiert Pädagogik und sie ist es, die uns mit mütterlicher Hartnäckigkeit aus den muffigen und abgedunkelten Zimmern vertreibt und uns in Bars, Restaurants oder Feiern zerrt. Ohne sie wären wir wohl zu sozial deformierte Eremiten mit vergilbten Zottelbärten mutiert, die vor lauter Einsamkeit angefangen hätten, seltsam glucksend an Grashalmen zu knabbern.
Ich wähnte mich nun im Hintertreffen mit Holger. Dachte dieser einfältige Pinsel etwa, mich mit diesem abgekarteten Schmierentheater aus dem Spiel nehmen zu können? Da hatte er sich gehörig in sein Solarium gebräuntes Fleisch geschnitten! Ich ging in die Offensive. »Das ist ein wunderschönes Kleid, was Du trägst.« sage ich mit rührseliger Stimme. »Danke aber das ist eh nur von C&A.« »Du bist die einzige Frau, die ich kenne, an der C&A Klamotten richtig teuer aussehen.« erwidere ich edelmütig und beobachte stolz, wie ihr Blick schüchtern zu Boden ging. Sabine rollt die Augen, während Holger seinen Neid unehrenhaft mit einem Kopfschütteln zur Schau stellt.
Natürlich hätte ich ihre Figur löblich in den Vordergrund stellen können, doch hätte dies ein allzu oberflächiges Licht auf mich geworfen. Ihr eine solche Ausstrahlung zu beurkunden, die selbst kläglich verarbeitete Kleider von der Stange exquisit erscheinen lassen, war selbstredend ein genialer Schachzug.
»Ja, das Kleid steht Dir wirklich ausgezeichnet.« kann Holger nur noch banal hinzufügen, ehe der Ober mit den Getränken zurück an den Tisch kommt. »Für wen war das Weizenbier?« Ich zeige kurz auf. Normalerweise trinke ich kein Alkohol, noch viel weniger Bier, da ich dem bitteren Abgang noch nie viel abgewinnen konnte. Doch heute ist eine besondere Situation. Das Weizenbier soll ihr suggerieren, dass ich ein geselliger Typ bin. Zudem kann sie von dem üppigen 0,5 Liter Glas auf meine ebenso üppigen körperlichen Merkmale schließen. Wir heben die Gläser und stoßen an. Ich nehme einen schmächtigen Zug und versuche den Ekel mit ausdrucksleerem Gesicht zu verbergen.
»Wisst ihr schon, was ihr nach dem Studium machen wollt?« fragt Sabine mit seltsam aufgesetzter Tonlage, worauf es aus Holger euphorisch herausplatzt: »Also ich habe mir fest vorgenommen, bei einer Non-Profit Organisation zu arbeiten und die Abholzung des Regenwaldes zu verhindern. Das Wohl dieser Erde liegt mir sehr am Herzen.« Bedeutungsschwanger lässt er seinen Blick in die Ferne schweifen. Die Freundin von Sabine stößt einen mitfühlenden Ton aus. Während Matze irgendetwas von IT-Firmen faselt, überlege ich mir, wie ich das gemeinnützige Gewäsch von Holger übertreffen könnte. »Ich will später einmal einer Kinderklinik für ADHS Erkrankte tätig werden. Ich finde, wir haben eine Verantwortung für unsere Kinder, mit der wir nicht leichtfertig umgehen dürfen.« antworte ich schließlich mit bierernstem Ausdruck und unterstreiche meine noble Aussage mit einem selbstbestätigenden Nicken, das prompt darauf mit einem zustimmenden Blick von dem Objekt der Begierde belohnt wird.
Im Grunde trommeln wir beide kraftstrotzend wie zwei paarungswillige Gorilla Silberrücken auf der beharrten Brust, um die Gunst des Weibchens mit animalischen Brunftschreien für uns zu gewinnen. Doch da wir Verfechter der menschlichen Evolution sind, verschieben wir die rohe Natur dieses Schauspiels stattdessen auf die rhetorische Ebene, indem wir an Hand feingewobener Konversation ihre Gunst zu erlangen versuchen. Sie beobachtet teilnahmslos das Spektakel und urteilt über jegliche Aktionen mit einem erhobenen oder gesenkten Daumen. Zudem war es zwischen Holger und mir vereinbart, dass egal wie hanebüchen unsere Aussagen oder Komplimente auch waren, wir würden uns nie gegenseitig verbal ans Bein urinieren und vielmehr das Weibchen entscheiden lassen.
»Wusstest Du, dass es sich bei dem Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung, kurz ADHS, um eine im Kindesalter beginnende psychische Störung handelt, die sich durch Aufmerksamkeitsprobleme, sowie Impulsivität auszeichnet? Etwa drei bis zehn Prozent aller Kinder zeigen diese Symptome und Jungen sind deutlich häufiger betroffen als Mädchen.« belehrt sie daraufhin Matze. »Wow! Woher weißte denn so viel davon?« fragt sie sichtlich erstaunt. Matze nestelt nervös an seiner Brille, ehe er ihr ausufernd erklärt, dass er einige Artikel darüber gelesen hatte und allgemein sehr gerne in Zeitschriften und Büchern stöbert. Viel interessanter hingegen ist die Tatsache, dass sich zwischen den Beiden nun eine angeheiterte Unterhaltung entwickelte. Dieser Akt der unprovozierten Intervention ist auch nicht unbemerkt an Holger vorbeigegangen, der verwundert zu mir schaut. In jenem Augenblick sahen wir unser Fell davonschwimmen. Mit einem Nicken einigen wir uns, Matze aus dem Spiel zu nehmen, der weiterhin mit parasitärer Heiterkeit unserer Angebeteten ein Gespräch in die Ohren lallt. »Ja, ja, ja, das ist ja alles sehr interessant Matze.« unterbreche ich ihn aus seinem Fluss, ehe ich mit eindringlichem Ton hinzufüge: »Aber was hat man schon von dem stubenhockerischen Gelese, wenn man die Welt nur auf dem Papier vor sich hat und sie nicht erlebt und spürt? Ich sag es Dir, nichts. Einfach nichts hat man davon.« »Ja Matze, Du kannst nicht ständig zu Hause bei Mama hocken. Du musst Dich auch mal trauen was zu erleben. Nur so kriegst Du auch mal ne Frau ab.« pflichtete Holger mir bei, worauf Matze eingeschüchtert mit dem Löffel in seinem Kamillentee rührt. »Das reicht jetzt Jungs.« springt Sabine wie ein aufopferungsvoller Königspudel schützend vor ihn.
Das schlechte Gewissen, das sich mir mahnend aufdrängt, wische ich zur Seite. Er hat doch selber Schuld, das passiert nun einmal, wenn man sich einfach ungefragt in die Angelegenheiten zweier Parteien einmischt.
»Was sind den eure Hobbys?« versucht die Freundin beschwichtigend den Themenwechsel zu vollziehen. »Also wenn ich mal nicht mit dem Paraglider unterwegs bin, trainiere ich für meinen Triathlon oder spiel ein wenig Schach zur Entspannung.« protzt Holger mit süffisantem Grinsen. »Und ich gehe gerne Tiefseetauchen und so oft ich die Zeit finde, besuche ich die Waisenkinder in der Innenstadt.« setze ich noch eins drauf. »Wow! Ihr seid ja ne richtig interessante Truppe.« erwidert sie mit einem Lachen. Sabine hingegen stützt den Kopf auf ihre Hand und konstatiert resigniert: »Ja, wir lassen uns immer was Neues einfallen.«
Gerade als Holger anfing von einer bedeutungsmageren und vollkommen überflüssigen Anekdote aus seinem belanglosen Leben zu schwadronieren, spüre ich es: das Problem Nummer 2. Meine Mutter teilte in peinlicher Berührtheit die Ausscheidung Stoffwechselprodukte in zwei Kategorien ein. Nummer 1 war die Miktion, die auch in geläufigen Kreisen der Gesellschaft als das Entleeren der Harnblase bekannt war oder wie es das vulgäre Pack ausdrücken würde: Pieseln, Schiffen oder gar Brunzen. Nummer 2 war dementsprechend die Entleerung des Darmes, dass sich just in diesem Augenblick in heftiger Natur bei mir zu Wort meldete und sich damit zu Problem Nummer 2 heraus kristallisierte.
Mein Magen fing an zu brodeln und das Völlegefühl breitete sich wie Blei in meinem Darm aus. Wir hatten uns vor dem Café noch bei Sabine getroffen und dank meiner hormongesteuerter Übermut, versuchte ich das Weibchen zu beeindrucken, indem ich von der Biokost probierte. »Biokost hat viele Ballaststoffe und reinigt so den Magen, was sehr förderlich für das eigene Wohlbefinden und die Darm Flora ist.« hatte Matze noch geschwafelt und nun sollte ich die Wahrheit seiner Aussage eigenhändig spüren. Die Worte von Holger ziehen immer undeutlicher an mir vorüber. Leichte Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn, als mir der Magen nun mit aller Deutlichkeit zu verstehen gibt, dass es ihm herzlich egal ist, dass die Situation gerade mehr als unpassend für mich ist. Wehen artig überfällt mich das drückende Gefühl und nach jedem Abklingen möchte ich wie eine Hochschwangere anfangen zu hecheln. Doch bleibe ich auf dem Sitz mit starrer Mimik und wäge die Sachlage ab. Seit einigen Minuten sitzen wir hier, ich kann also unmöglich zum Aufbrechen aufrufen, da sonst mein durch das Weizenbier aufgebaute Image eines geselligen Zeitgenossen zerstört werden würde. Ich erinnere mich an den Schnellimbiss in der Nähe, der eine Toilette sein Eigen nennt, doch kann ich nicht einfach so Holger die Initiative überreichen und kampflos aufgeben. Mir kam eine Idee. Ich würde ganz unauffällig und kontextreich das Gesprächsthema auf Blauwale umschwenken, denn das war Matzes Lieblingsthema, über das er sich Stunden auslassen konnte und genau dies sollte er in meiner Abwesenheit auch tun. Das selbstverliebte Mundwerk Holgers mit dem größten Säugetier auf diesem Planeten stopfen, während ich mich meinen Ballast entsorgen würde. »Ja ich finde es prima, wie Du Deiner Mutter da aus der Patsche geholfen hast. Apropos, findet ihr nicht auch, dass viel zu wenig gegen die Ausrottung der Blauwale unternommen wird?« frage ich mit authentischem Interesse und fixiere Matze eindringlich. Doch dieser elendige Eierkopf spielt nicht mit und rührt immer noch eingeschnappt in seinem Kamillentee. Mein pedantischer Magen macht mir in dem Augenblick mit einer weiteren Wehe klar, dass ich keine Zeit für andere Überlegungen habe, womit ich aufstehe und mich von dem Tisch entferne.
Ich bin bemüht einen aufrechten, mannhaften und selbstsicheren Gang aufzuführen, so schwer mir das auch mit der angespannten Darmsituation auf fällt. Ich spüre förmlich ihre bewunderten Blicke auf meinem Rücken, wie sie mich anhimmelt und Holger mit einer abweisenden Hand zu verstehen gibt, dass sein unkultiviertes Gezeter an diesem Tisch und vor allem nicht bei ihr erwünscht ist.
Kurze Zeit später betrete ich das Fast Food Restaurant und treffe auf die beleibte Bevkölkerungsmasse, die mit jener Absichtserklärung in diesem Etablissement waren, um fettige Fastfood-Produkte zu verzehren, die so eine geringe Halbwertszeit aufweisen, dass man schon vor dem ersten Bissen, das nächste Super-Mega-Menü bestellen möchte. Der Geruch von gebratenen Fleisch wandert durch meine Nase in meinen Magen und legt sich schwer auf jenes verdaute Schwergewicht, dass sich Stück für Stück ans Ende des Tunnels schiebt. Ich muss so schnell wie möglich die Toilette finden und zurück an den Tisch, an dem Holger wohl gerade aufs heftigste mit meiner Angebeteten flirtet. Kurz darauf finde ich die Toilette und zudem auch ein Schild, das mahnend über einem Codeschloss hängt und mir freundlich aber bestimmt mitteilt, das ich doch bitte zuerst ein im Preis-Leistungs-Verhältnis vollkommen überzogenes Produkt zu erwerben muss, bevor ich dieses verdaut hinter dieser Tür wieder freigeben kann.
Wie kann es sein, dass man in einer sozial geprägten Gesellschaft selbst für die niedrigsten Bedürfnisse einen unangemessenen Gegenwert verlangt. Ich ersticke jenen klugscheißerischen Gedanken, der mir gerade über die Hirnbahnen entgegenschlürft und mir weismachen will, dass die Toiletten von dem Personal gereinigt werden müssen und es wirtschaftlich nachvollziehbar ist, Geld dafür zu verlangen. Das ist mir gerade egal, ich bin empört, wütend und verzweifelt. Von jedem etwas oder besser gleich alles zusammen.
Resigniert wie ein desillusionierter Vertreter einer Hippie Bewegung greife ich in meine Tasche, um das Portemonnaie zu zücken. Doch ich lange ins Leere, die Taschen sind mit Flusen und einem benutzen Taschentuch gefüllt. Erneut flaniert mir der klugscheißerische Gedanke übers Hirn und erinnert mich daran, dass ich meine Brieftasche in der Jacke deponiert habe, die nun perspektivlos über dem Stuhl im Café herumgammelt. Ich konnte unmöglich zu dem Tisch zurückkehren. Besonders Holger würde Fragen stellen, unangenehme Fragen, dass mit hoher Sicherheit mein aufgebautes Image zerstören würde. Ich habe absolut keinen Schimmer, wie ich das aufgeblähte Gefühl nun aus mir heraus kriege.
Ich verlasse das Fastfoodrestaurant und jongliere mit dem Gedanken, wimmernd jene Menschen anzuflehen, die mit halbverdauten Hühnerschenkeln in den Mundwinkeln an mir vorbeigehen. Anbetteln werde ich sie, genau, wie der Obdachlose es dort Gegenüber macht, der mit Plastikbeuteln und zerlumpten Kleidern an der Wand herumlungert.
In diesem Augenblick brennt der Wolframfaden meiner metaphorischen Ideenlampe hell auf, als ich einige Pfanddosen neben dem heruntergekommenen Mann erspähe. Ich werde dem Penner die Dosen entwenden und diese beim Supermarkt einlösen. Mit diesem Geld kann ich mir im Schnellimbiss etwas kaufen und mich dann dort von dem Ballast befreien. Doch wäre es nicht hochgradig asozial, einem hilfsbedürftigen Mitmenschen, dem die gefühlskalte Gesellschaft ins Abseits stellte, auch noch den letzten Besitz zu stehlen, nur um seine eigenen Bedürfnisse zu stillen? Mir kommt eine weitere Idee. Ich werde ihm, wie geplant, die Pfanddosen abnehmen und wenn die Clique nach dem geselligen Zusammensitzen sich auf den Rückweg macht, werde ich ihm vor den Augen meiner Angebeteten einen 5 Euro Schein spendieren. Damit habe ich meinen Diebstahl mehr als wett gemacht und stehe noch als selbstloser Held da. Ein diabolisches Gelächter durchzieht mein Hirn, geweckt durch meine bitterböse Genialität.
Also gehe ich auf den Obdachlosen zu und verberge mein abgründiges Vorhaben mit einem alltagstauglichen Gesichtsausdruck, wie man ihn zuhauf auf den Straßen bei unbescholtenen Bürgern findet. Ich nähere mich ihm und erkenne, dass er eine Zipfelmütze trägt. Warum in aller Welt trägt er im aufkeimenden Hochsommer eine Wintermütze? Ist er etwa so vorausahnend, dass er seinen Körper so an die anstehenden Minusgrade gewöhnt? Oder ist er ein ehemaliger Top-Manager, der den steilen Weg seiner Karriere mit Bestechungen abkürzte, dem jedoch seine Vorgesetzten auf die Schliche kamen und ihn im letztjährigen Winterurlaub entließen, so dass die Zipfelmütze seine einzige Erinnerung an vergangene glorreiche Tage war? Egal, ich muss mich auf den bevorstehenden Diebstahl konzentrieren. »Guten Tag werter Herr, ist das nicht ein ausgezeichneter Abend?« spreche ich ihn mit unverdächtig klingender Stimme und vertrauensvollerweckender Mimik an. »Klaro, richtig geiler Abend, grade wenn man de Nacht auf der verpissten Straße pennen darf, kein Dach, Kohle oder warmes Fressen hat. Und jetzt troll dich Arschgeige!« erwidert er mit einer Eloquenz, bei der sich Goethe mehrfach im Grab umgedreht und einen Drehwurm 1. Grades davongetragen hätte, wenn er denn noch am Leben gewesen wäre. Da mir auf seine recht direkte ausladende Antwort nichts Gescheites einfallen möchte, bediene ich mich wiederum einer Finesse aus meiner schier unerschöpflichen Genialität. »Hey, was ist das denn da hinten? Ist das etwa ein 20 Euro Schein, der da vollkommen unbeaufsichtigt auf dem Bordstein liegt?« rufe ich aufgeregt. Noch als er sich umdrehte, packe ich mir eine Handvoll Dosen und sprinte los.
Mit diesem gewieften Trick wusste ich schon in der 6. Klasse das Pausenbrot der dicken Lisa zu erbeuten. Natürlich petzte sie es der Lehrerin (kein Wunder, dass sie niemand mochte) und da half auch meine logisch strukturierte Begründung nicht, dass ich mir Sorgen um ihre Figur machte, die ein gewichtiger Grund für die Hänseleien waren.
Aber zurück zum zipfelmützigen Penner, der nun die Wahl hat, mir und seinen 50 Cent teuren Pfanddosen hinterher zu spurten und damit sein Hab und Gut anderen dreisten Handlangern zur freien Verfügung zu stellen oder den Ärger einfach runterzuschlucken und mich ziehen zu lassen. Gott sei Dank entscheidet er sich für erstere Variante, denn habe ich nicht nur dank meines pedantischen Darmtraktes ein sich rapide schließendes Zeitfenster vor Augen, sondern wirkte der Zipfelmützen-Penner auch recht robust und muskulös. Nun renne ich mehr oder weniger stolz mit den Pfandflaschen eines Obdachlosen in den nächsten Supermarkt, wo sich erfreulicherweise so gut wie keine Kunden befinden, die, wie sich kurz darauf zeigt, sich entschlossen hatten, in der Kassenschlange zu tummeln. »Verdammte Scheiße!« entweicht es mir wenig elegant, was die Aufmerksamkeit eines behäbigen Mannes am Ende der Schlange auf mich zog, zu dem ich mich mit unterdrückter Wut und verdauter Biokost im Magen geselle.
Ich ging immer ungeprüft davon aus, dass wir in einer schnelllebigen Zeit leben. Kaum hatte man sich vom mühselig ersparten Geld ein teures Produkt mit mehrwöchiger Lebensdauer zur Steigerung des gesellschaftlichen Status gegönnt und ist ganz unverdrossen davon ausgegangen, sich nun ein Avantgardist nennen zu dürfen, wurde man für diesen blauäugigen Trugschluss schon am darauffolgenden Tag als verstaubter Nostalgiker von den Trendsettern ausgelacht.
Doch was sich hier in der Warteschleife abspielt, spottet jeglicher kapitalistischer ‚Zeit ist Geld‘ Grundeinstellung. Da wird herzhaft gelacht und geplaudert, als wäre man auf einem Pfadfinderausflug und am knisternden Lagerfeuer würde der verpickelte Fieselschweif Leiter mit seiner verstimmten Akustikgitarre ‚Kumbaya my Lord‘ zupfen. Warum wird das ungeschriebene Gesetz der Kassenreihe hier so dreist missachtet? Es sollte doch jeder angehalten sein, in der Warteschlange stumm, zügig und wenn möglich, streng reinblickend die Ware auf das Fließband zu legen. Sollte es doch einmal vorkommen, dass eine redselige Kassiererin einem unverschämten Smalltalk ins Gesicht schmieren wollte, sollte der bedrängte Kunde sie sofort mit der 1,5l fettarmen Milch zur Ruhe ohrfeigen und anschließend an den Haaren ins Abteilungsleiterbüro zerren, um sie dort drakonisch zu bestrafen oder gleich an Ort und Stelle niederzuschießen.
Die Zeit drückt, sie drückt wortwörtlich und liebend gern würde ich meinen gewaltbereiten Gedanken folgen und den großräumigen Supermarkt in ein blutiges Schlachthaus verwandeln. Doch kann ich mich noch einmal zur Ruhe besinnen, schließlich waren geklaute Bierdosen in meinem Besitz, die ich einem Wesen der untersten Wertekette dieser Gesellschaft enteignet hatte, um meine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen.
Vor mir hievt ein Mann mit der Statur eines überdimensionalen Beuteltiers und der Ruhe eines tibetanischen Gebetsmönches seine endloserscheinende Ware auf das Fließband. In diesem Augenblick schießen mir Bilder in den Kopf, wie Holger gerade mit einer Pointe die Freundin von Sabine zum Lachen bringt und sie daraufhin mitten auf dem Tisch des Cafés entkleidet und vor dem applaudierenden Zuschauerpulk in die Ekstase treibt. Das war zu viel, erst mein Magen und nun stellt sich auch noch das eigene Kopfkino gegen mich. Ich muss hier raus, mit Pfand und dann zum Café, ohne vollen Verdauungstrakt. Doch steht zwischen all dem, dieser unglaublich behäbige Mann. Ich will ihn anschreien, ihm weh tun, seinen Kopf gegen die Scanneranlage schlagen, worauf dort wahrscheinlich der Preis für Weißkohlkopf flimmern würde. Ich spüre, wie die rohe Gewalt sich erneut in meinen Nervenbahnen ausbreitet und ich mit den Gedanken spiele, dem Ganzen hier ein schreckliches und blutreiches Ende zu bereiten. »Mann enthauptet Kunden im Quickie Supermarkt.« »Täter setzt ein Zeichen gegen Warteschlangen.« »Fabian Büchner Ehrenbürger von Berlin.« Der Bürgermeister würde mich mit stolzer Brust über den schmucken roten Teppich durch das Blitzlichtgewitter der lechzenden Reporterhorde führen, der ich einer Siegerpose nach der anderen präsentieren würde. »Verdammte Axt.« würde ich ins Goldene Buch kraxeln, was authentisch und angemessen den historischen Moment in Worte fassen würde.
Als er nun nach einer gefühlten Lebensdauer die Kassiererin erreicht und diese ihm den Preis seines Einkaufs vor Augen führt, sucht dieser daraufhin in dem endlosen Weiten seines Textil das Portemonnaie.
Ich wusste immer den exakten Betrag, den ich zu zahlen hatte, und versuchte sogar ein Vorbild zu sein, indem ich das Geld abgezählt in den Händen hielt und höhnisch die Kassiererin angrinste, als diese in ihrer antrainierten Mistrauigkeit das Geld überprüfte. Doch schlürfen anscheinend viele meiner Mitmenschen mit der Illusion durch den Supermarkt, dass in jenem Augenblick das kapitalistische Wertesystem in einer Blitzrevolte gegen die sozialistische Ideologie eingetauscht wurde und sie die Produkte an der Kasse für lau mitnehmen könnten. »Brot für alle. Lang lebe die Gemeinschaft.« Anders konnte ich es mir nicht erklären, warum so viele Schlafnasen mit erschrockenem Gesichtsausdruck überrascht feststellten, dass die Verkäuferin doch dreister Weise monetäres Gut für die Ware verlangte.
»Die nehmen wir hier nit an.« unterbricht mich die Kassiererin rüde aus meinem angenehmen Gedankenfluss. »Bitte?« »Biste schwerhörig Kurzer? Die Dosen nehmen wir nit an, die musste in nen andren Laden bringen.« »Können Sie nicht eine Ausnahme machen?« frage ich mit der größtmöglichen Demut und verzweifelten Gesicht, das mein gesamtes Elend unterstreichen soll. »Machste Scherze? Du kriegst hier keine Asche für.« »Nun gut, dann trotzdem danke. Haben Sie noch einen angenehmen Feierabend.« sülze ich, während sich meine Finger rot angelaufen in das Blech des fehlgeschlagenen Plans keilen. »Haste dat gehört? Ick glaub‘ ick spinn‘. Was für‘n Heini.« höre ich noch, wie sich hinter mir mitteilte, ehe sich der Schmerz aus dem Darm wieder zu Wort meldet. Der Druck war mittlerweile so final, dass ich Mühe habe, aufrecht wie ein gelernter Homo sapiens zu stehen. An eine Pfandrückgabe bei dem Supermarkt in der Stadtmitte war nicht zu denken, ich muss handeln, und zwar sofort. Ich lasse die Bierdosen in den Mülleimer kullern, mit der flüchtigen Hoffnung, der Zipfelmützen-Penner würde sie dort irgendwann finden und keinen Groll mehr gegen mich hegen.
Ich spurte durch die leider sehr gut ausleuchteten Gassen und bin wie ein räudiger Straßenköder auf der Suche nach einem Gebüsch. Ich frage mich, warum das Vorhaben des Bürgermeisters, für mehr Grün in der Stadt zu sorgen, so schlampig umgesetzt wurde, denn nirgends finde ich einen geeigneten Rückzugsort für mein schändliches Vorhaben. Als meine Muskeln in den Beinen und der Muskel darüber schon kurz vor der Aufgabe stehen, erspähe ich doch noch ein Dickicht und es stört es mich herzlich wenig, dass es von einem schäbigen Gartenzaun abgegrenzt wird. Mit der artistischen Eleganz eines chinesischen Zirkusaffen überspringe ich den Zaun und roll den Sprung wie ein britischer Geheimagent auf entleerender Mission ab.
Da war er. Der Busch. Die Erlösung. Das unrühmliche Ende einer schmerzhaften Odyssee und baldige Lager- und Ruhestätte meiner Qualen. Nachdem ich mich mit verstohlenen Blicken noch einmal versichere, dass auch ja kein menschliches Wesen Zeuge dieses Verzweiflungsaktes wird, streife ich mir die Hose herunter und würde in diesem denkwürdigen Moment jegliches Anrecht darauf verwirken, mich je wieder als zivilisierter Zeitgenosse mit den besten Manieren vorstellen zu können. Noch bevor ich mich würdelos den niedrigsten Bedürfnissen widmen kann, bringt mich ein Schrei zur Starre. »Was in Gottes Namen machsten Du da?!« krakelt mich eine Frau aus dem Dunklen heraus an. Eine berechtigte Frage, der ich selbst in diesem bloßgestellten Moment Anerkennung zollen muss. »Nichts.« entweicht es mir lakonisch aus meinem Mund und wohl eher unzufriedenstellend für den Fragensteller. Natürlich hätte ich ihr die ganze Misere detailreich und eloquent erläutern können, doch empfinde ich Zeit, Ort und selbstredend die heruntergelassene Hose als wenig taktvoll. Mein bedröppelt dreinblickendes Gesicht spricht wohl mehr, als ich jemals in der Lage gewesen wäre zu verfassen, denn erwidert sie: »Komm‘ zieh‘ Dir mal die Hosen hoch, ich hab‘ oben ne Toilette, die kannste benutzen. Immer noch besser als hier.« Diese Aufforderung komme ich prompt nach.
Als wir die Treppen des Hauses zu ihrer Wohnung hinauf steigen, würde ich normalerweise einen cleveren und humoristischen Spruch servieren, der diese peinlich aufgeladene Situation entknobeln könnte und mich weniger als ungehobelten Lüstling und mehr als missverstandenen Genius dieser Zeit darstellen würde, doch gerade konzentriert sich mein gesamter Gedankenapparat angestrengt auf die untere Körperhälfte.
»Da wären wir auch schon, hier ist das Bad.« »Danke.« sage ich flüchtig und eile in das Zimmer. Mit schmerzverzogenem Gesicht fixiere ich das stilistisch sehr ansprechende Bild an der Wand und übe mich darin, den Akt auf der Toilette so geräuscharm wie möglich zu gestalten. Nachdem ich mich einer gut und gerne 250 g Last entledigt habe, reifen in mir jene Gedanken, wie ich mich aus dieser Situation möglichst ohne allzu herben Gesichtsverlust verabschieden kann.
Einfach ein knappes ‚Danke‘ in den Flur werfen oder mich gar wortlos aus der Wohnung zu stehlen steht außer Frage, denn schließlich handelt es sich in diesem Fall um keine bloße Gefälligkeit eines sozialen Mitbürgers. Doch die Zeit drängt erneut, ich muss mich entscheiden. Je länger ich hier auf der Schüssel des Klos warte, desto häufiger würde sich die hilfsbereite Frau Gedanken um den Zustand ihres Gastes und Bades machen. Auf der anderen Seite würde das übereilte Betätigen des Spülknopfes ihr den Abschluss meiner Tätigkeit signalisieren und das Verweilen in dem Zimmer einen unwiderruflichen Verdachtsmoment erwecken. Seit ich denken kann, plage ich mich mit potenten Problemen herum, wenn es darum geht, eine Angelegenheit innerhalb eines zeitlichen Rahmens zu lösen. Daher entscheide ich mich spontan für den pragmatischen Ansatz und überlasse ihr die Initiative. Denn hatte sie mich ja im Garten ertappt und hätte mich wie einen räudigen Hund, der es einfach nicht besser weiß, davon jagen können, verziert mit einigen neumodischen Schimpfwörtern, wie das heutzutage ja überall der Usus ist. Aber aus irgendeinem Grund hatte sie mich eingeladen und damit liegt der Ball der Initiative definitiv in ihrer Hälfte.
Ich erniedrige den Spülschalter und vergewissere mich, dass keine unschöne Hinterlassenschaft auf der Emaile hinterlassen wird. Geflissentlich wasche ich mir die Hände, bevor ich nun gleich meinen Gastgeber kennen lernen werde. Ich öffne also die Tür mit der Unsicherheit eines 13 jährigen Bengels im Magen, der beim Spannen erwischt wurde und nun zum Rapport bei der Obernonne geladen ist. »Geht‘s wieder?« erkundigt sich eine Stimme aus einem Raum nebenan.
Herrje, jetzt schneidet sie auch noch ganz unverblümt und weltoffen das Thema an. Das Badfenster wirkt verlockend. Ich könnte doch einfach hinaus hechten und wie bei dem Zaun zuvor, den Sprung elegant mit einer Vorwärtsrolle abfangen. So ist es doch Gang und Gäbe bei den Hollywoodfilmen und da steht doch auch nicht ganz kontextlos ‚based on a true story‘ im Abspann. »Biste noch da?« dröhnt es besorgt aus dem Zimmer und wird von herannahenden Schritten düster untermalt. Zeit sich zu entscheiden mein lieber Fabian, wer soll nun deine Entscheidung werden. Kandidat 1, das zart besaitete Mädchen, das vor der drohenden Konfrontation mit kreischendem Sopran davoneilt oder doch lieber Kandidat 2, der mannhafte Krieger, der sich mit wilder Löwenmähne furchtlos in das Gefecht stürzt?
Ich entscheide mich für Letzteres, auch wenn ich eher verschüchtert auf den Boden starre, als sie in den Flur kommt. »Ah gut, Du bist noch da, dachte schon Du wärst wieder fort.« »Ach iwo, ich doch nicht.« sage ich stammelnd und spüre, wie die Peinlichkeit meinen Kopf verziert. »Wenn de Lust hast, kannste gerne noch auf nen Schluck nach nebenan kommen.« Ich will hinaus in die süße Freiheit der Stadt und doch weiß ich nicht, welche Synapse ich dafür verantwortlich machen soll, dass ich der Frau in die Küche folge.
Die Küche kommt mit seinem rustikalen Holztisch, einem Schrank und der Anrichte recht spartanisch daher und doch versprüht sie das Flair von Behaglichkeit. Ich setze mich an den Tisch und lasse meine Finger darunter nervös auf meiner Hose auf und abrutschen. »Ich hab‘ Tee gemacht, aber wenn de magst, hab ich auch noch Bier im Kühlschrank.« »Tee klingt ganz gut.« sage ich noch immer schüchtern und beobachte, wie sie den Tee an der Küchenanrichte in zwei Tassen verteilt.
Was ist, wenn es sich bei der scheinbar fürsorglichen Philanthropin um eine soziopathische Nymphomanin handelt, die mir Drogen in den Tee träufelt und mich im Zustand der Hilflosigkeit als gefälliges Sexobjekt missbraucht? Ich zerstreue diesen Gedanken und beschließe weniger Zeit vor dem Bildschirm zu verbringen.
»Das ist Kamillentee, der beruhigt auch den Magen ein wenig.« sagt sie, als sie sich zu mir an den Tisch setzt. »Und mach dir keinen Kopp mehr über die Sache im Garten vorhin, das ist uns schon zweimal passiert. Ich hab‘ gleich gesehen, dass Du kein Betrunkener oder nen Perversling warst.« Es muss wohl mein Schweigen gewesen sein, das sie dazu bewegt haben muss, das zu sagen. »Eigentlich wollte ich ja bei dem Schnellimbiss gehen aber die verlangen doch tatsächlich Geld für den Toilettengang.« erwidere ich. »Ja das Problem hatte ich auch mal. Ich musste mal tierisch Pipi, hatte aber kein Geld bei mir, also wollte ich einem Gast den Beleg moppsen, der mich dabei erwischte und seitdem gelte ich dort als ‚Persona non grata‘. Aber hey, wir haben uns ja noch überhaupt nicht vorgestellt. Ich bin die Olivia.« sagt sie und reicht mir die Hand über den Tisch. »Fabian, nett dich kennenzulernen.« entgegne ich und realisiere erst jetzt, dass es sich bei ihr um eine ältere Frau handelt, die ich, wenn ich müsste, auf Mitte 30 schätzen würde. Olivia trägt ein blau gemustertes Kopftuch, unter dem ihre langen blonden Haare heraushängen. Eine Vielzahl von Farbflecken versammelt sich auf dem ärmellosen T-Shirt und als sie die Tasse anhebt, erspähe ich diese auch auf ihren Händen.
»Was machst Du so?« frage ich sie. »Ist Dir schon mal aufgefallen, dass diese Frage in Gesprächen oft zuerst gestellt wird? Wir fragen nie, was einem gefällt oder welche Leidenschaft man sein Eigen nennen kann, sondern vermutet, dass eine Bibliothekarin Bücher liebt und ein Hausmeister auf ein gescheitertes Leben zurückblicken muss. Als könnte man so besser einschätzen, mit was für einer Person wir uns gerade unterhalten.« »Tut mir leid, ich wollte nicht ...« »Na, das war keine Kritik, das fiel mir nur gerade wieder auf. Ich bin Kellnerin in der ‚Tanzbar‘.« »Cool, da war ich sogar mal, ganz netter Schuppen. Ach ja, ich studiere BWL, 7. Semester und hab‘ ehrlich gesagt null Ahnung, was ich danach machen möchte. Irgendwie ein gruseliger Gedanke, denn so langsam wird es mit Sicherheit Zeit sich zu entscheiden.« erwidere ich fast entschuldigend. »Ach, ich hab Ewigkeiten gebraucht, ehe ich wusste was ich möchte und hab‘ mir auch die Zeit genommen die ich brauchte. Irgendwann wirst Du herausfinden, was Dich begeistert und glücklich macht.« Nach einem Schluck aus meiner Tasse frage ich: »Und was interessiert Dich neben der Arbeit, was ist Deine Leidenschaft?« »Das Saftschupsen mach‘ ich eigentlich nur, um die Miete zahlen zu können. Ich male für mein Leben gern. Das ist meine richtige Leidenschaft und wer weiß, vielleicht reicht das eines Tages aus, um nicht mehr in der Bar billigen Wein auszuschenken. « »Ach ist das Bild im Bad von Dir? Das sieht wirklich klasse aus, gefällt mir was Du mit den Farben gemacht hast.« »Das ist schon uralt. Hatte das für meine Tochter mal gemalt. Aber Danke. Wie sieht das mit Deinen Hobbies aus? « »Wenn ich mal nicht mit meiner Truppe durch die Gegend ziehe, lese ich so oft wie ich möglich. Ich kann mich noch an mein erstes Buch erinnern: ‚Die Reise zum Mittelpunkt der Erde‘ von Jules Verne. Ich verbrachte Tage damit im Bett zu liegen und Seite für Seite zu verschlingen.
Ich stellte mir vor, dass ich zusammen mit Professor Lidenbrock, Axel und Hans immer tiefer ins Erdinnere gelangte und als die Wasservorräte bei ihnen knapp wurden, beschloss ich auch kein Wasser zu trinken. Das war damals für mich alles so hautnah und wenn ich könnte, würde ich jeden Tag ein Buch lesen.« Das hatte ich noch niemanden aus meiner Clique anvertraut und ich weiß nicht warum ich ihr diese Information so freimütig erzähle, vielleicht weil ich kurz davor gewesen war, mein Geschäft in ihren Garten zu verrichten aber eventuell liegt es daran, dass ich nicht das Gefühl habe, etwas beweisen zu müssen. Als ich den letzten Schluck aus der Tasse trinke, fällt mein Blick auf die späte Uhrzeit. »Es tut mir leid aber ich glaube meine Freunde warten noch auf mich in dem Café.« »Ach das macht doch nichts, komm, ich bringe Dich noch zur Tür.« »Es war wirklich nett, auch wenn die Umstände am Anfang eher suboptimal waren.« sage ich mit einem Grinsen. »Schwamm drüber, wenn Du mal wieder Lust auf einen Besuch auf meiner Toilette oder ganz konventionell eine Tasse Tee trinken möchtest, weißte ja jetzt wo ich wohne.« erwidert sie mit einem Augenzwinkern.
Auf dem Weg zurück ins Café, verspüre ich nicht nur wegen des entleerten Darms eine seltsame Leichtigkeit. Es ist nicht so, dass Olivia und ich ein tiefgründiges oder aufschlussreiches Gespräch geführt haben aber es war ehrlich, ohne Prahlerei oder hohlen Phrasen. Und auch wenn ich nicht weiß warum aber es ist mir egal geworden, ob Holger die Freundin erobern konnte oder welchen Eindruck sie von mir hat. Diese ganze Situation dort erscheint mir gerade recht trivial und unbedeutend.
Als ich wieder zurück an den Tisch komme, beachtet mich die Freundin von Sabine nicht, sondern streicht ihre Haarsträhne zur Seite und betrachtet dabei Holger. Ein untrügliches Zeichen, dass er meine Abwesenheit gut zu nutzen wusste. »Da biste ja, wir ham uns schon Sorgen gemacht.« nuschelte Sabine, während mich Matze noch immer keines Blickes würdigt. »Ich habe eine alte Freundin getroffen und wir haben uns etwas verquatscht.« erwidere ich flüchtig und ziehe meine Jacke an. »Gehste etwa?« sagte Sabine erstaunt. »Ja, ich hab ganz vergessen, dass ich noch jemanden treffen muss. Tut mir leid aber wir sehen uns ja noch. Bis dann!« sage ich in die Runde, worauf nur Sabine und Matze mit einem Runzeln auf der Stirn reagieren. Sabine folgt mir noch ein paar Schritte und legt ihre Hand auf meine Schulter. »Is‘ wirklich alles in Ordnung mit Dir? Du verhälst Dich irgendwie komisch.« Ich grinse sie an, ehe ich sie und das Café wortlos hinter mich lasse. Auf dem Weg gehe ich noch zu dem Zipfelmützen-Penner, der mich mit einem wütenden Blick begrüßt und sich vor seinen Habseligkeiten bedrohlich aufbaut. Mit beschwichtigendem Ton versuche ich mich bei ihm zu entschuldigen und werfe ihn einen Geldschein zu. Als ich wenig später zu Hause ankomme, krame ich aus meiner Truhe ‚Die Reise zum Mittelpunkt der Erde‘ und kann erst am darauffolgenden Morgen die Augen schließen.
Wie gesagt, liegt das Ganze schon einige Jahre zurück und was aus den anderen geworden ist, weiß ich nicht. Der Kontakt hat sich über die Zeit verlaufen. Nur von Holger und seiner Union Berlin lese ich manchmal in der Zeitung. Ich besuchte Olivia danach öfters und wir sind bis zu diesem Tag gute Freunde geblieben. Sofern es die Arbeit bei dem Bücherverlag zulässt, besuche ich sie hin und wieder in ihrem Atelier. Wir plaudern bei einer Tasse Tee über Gott und die Welt und erinnern uns gerne an diesen einen Abend zurück, denn bedeutete er den Anfang von wunderbaren Jahren. Doch das ist eine andere Geschichte.

Dienstag, 19. Juli 2011

Mitternachtsspitzen

Sie kaute auf ihrer Unterlippe. Ein untrügliches Zeichen, dass sie die Beherrschung jeden Augenblick verlieren würde. Die Klasse der 9 c tobte ausgelassen wie ein österreichischer Altherrenverein auf Mallorca auf den Tischen. »Könnt‘ ihr mal bitte ruhig sein und euch ordentlich hinsetzen?« rief sie in den Raum, was prompt mit zerknüllten Papierkugeln beantwortet wurde. Erst als der Fernseher flimmerte, beruhigten sie sich und starrten auf die Mattscheibe. Erschöpft ließ sie sich in den Stuhl fallen und suchte nach Aspirin in ihrer Handtasche. Doch hatte sie seit langem den Wunsch, eine großkalibrige Handfeuerwaffe darin zu finden und Salve um Salve in das aufgedrehte Schülerpack zu pumpen. Allein die Aussicht auf strafrechtliche Konsequenzen hielt sie zurück. Was sie zu diesem Zeitpunkt nicht ahnen konnte, dass sie in zwei Tagen ums Leben kommen würde.
Doch bevor es so weit ist, nehmen wir uns doch etwas Zeit und lernen sie näher kennen. Sie heißt Karina Buttler. »Mit Doppel t, ich bin ja schließlich kein Butler.« betonte sie stets, in der Hoffnung witzig zu wirken, was selbstredend selten der Fall war. Karina ist eine normale Frau dieser Zeit. Sie ist unzufrieden mit ihrer Arbeit und hält sich mit ihren 29 Jahren am Ende ihrer biologischen Existenzberechtigung. Sie ist alleinstehend und Deutschlehrerin an der 14. Realschule. Seit dem ersten Tag fühlte sie sich von den Schülern überfordert und ihr Nervenkostüm ähnelte immer mehr der Ozonschicht, löchrig und stetig abnehmend. Dabei hatte sie Kinder doch einmal so gemocht. Ihr fehlte einfach die dazugehörige Portion Autorität, die ihr in der Kindheit abhandengekommen war. Schuld daran hatte, wie so häufig, die eigene Mutter. Sie war Pastorin und predigte Nächstenliebe im Hause Gottes, während sie Disziplin in den eigenen vier Wänden prügelte. Da sie seit Beginn keine Ordnung in ihre Klasse bringen konnte, spielte sie alte VHS Kassetten ab. So hatte Karina ihre Ruhe und die Schüler mussten ihre Synapsen nicht mit kulturellen ‚Nullcheckern‘ wie Goethe belasten.
Nach der Stunde verließen die Schüler eifrig das Klassenzimmer und auch sie machte sich auf den Weg nach draußen. In dem Schulflur begegnete ihr Norman, der Hausmeister. »Na Karina, schon auf‘m Sprung? Willste heut‘ Abend noch bei mir etwas rumturnen?« sagte er mit testosteronverschmierten Grinsen. Sie ging wortlos an ihm vorbei und ließ ihren Mittelfinger über die Schulter ragen. Sie hatten vor einiger Zeit ein Techtelmechtel miteinander, was ein abruptes Ende fand, als sie ihn mit Frauenunterwäsche vor dem Spiegel überraschte. Sie hatte nichts gegen Fetische, doch einem haarigen Mann in der Spitzenunterwäsche ihrer Mutter konnte sie nicht viel abgewinnen. Immer wenn sie auf ihn traf, tat sie das, was ein übergewichtiger Tourist mit dem Wasser in einem Freibad machte: Sie verdrängte, und zwar die aufkommenden Bilder aus ihrem Kopf. Er hingegen kam mit der Trennung nicht zurecht und fand Genugtuung darin, ihr ständig nachzustellen.
Schnee bedeckte den Hof der Schule, den einige Schüler nutzten, um Schneebälle an das Glas der Haltestelle zu werfen, hinter der Karina auf die Straßenbahn wartete. Sie ließ den Kopf hängen und schwieg, als das halbstarke Pack sich darüber amüsierte. Die Bahn brachte sie wenig später in ihr Wohnviertel und von dort schlenderte sie zu der kleinen Kioskbude. Alfred hatte schelmische Falten um die Augen, als er sie mit einem Schmunzeln begrüßte. Sie kaufte fast jeden Tag ein Magazin, um das Östrogen in ihr zu befriedigen. Sie mochte Alfred, obwohl sie kaum verstand, was er sagte, wusste sie so viel, dass er früher im britischen Militär gedient hatte, ehe er als Gastarbeiter nach Deutschland kam und sich nun etwas zur Rente hinzu verdiente. Sie nahm das Frauenmagazin, verabschiedete sich mit einem militärischen Gruß und brauchte nur einige Schritte durch den Schneematsch bis zu ihrer Haustür. Sie leerte den Briefkasten und schlurfte zu ihrer Bleibe. Zwar war sie unzufrieden mit ihrer Arbeit, doch bildete die Wohnung für sie eine Zufluchtsstätte. In jeden Raum konnte ungehindert positive Energie durch die Fenster gleiten. Die Möbel ordnete sie nach den Vorgaben eines Feng-Shui Experten an. Immer wieder spürte sie beim Betreten, wie das Yin der Mahagoni Kommode von dem Yang des Ziegenhaarteppichs komplettiert wurde. Karina legte sich auf die Couch und überflog mit offener Hose die Post, bis sie einen kleinen Brief bemerkte. Mit feiner Handschrift stand ihre Adresse auf dem Umschlag. Kein Absender. Der Geruch des Parfums, der von dem Brief ausströmte, kam ihr bekannt vor, doch konnte sie ihn nicht einordnen. Zögerlich öffnete sie ihn und nahm einen Zettel heraus. Werte Frau BuTtler seien sie gewarnt, der Tod eilt mit großen Schritten zu Ihnen. Können Sie ihn hören? Können Sie seinen heißen Atem auf Ihrer Haut spüren? Bald ist er da. N. Erneut überflog sie die Nachricht und runzelte die Stirn. Sie glaubte wohl, dass es sich um eine schlechte Marketingkampagne eines Franchise Unternehmen für Beerdigungen handelte, da sie den Brief kurz darauf zu Boden segeln ließ. Normalerweise würde sie ihre Augen mit den Niederrungen menschlichen Abschaums betäuben, doch nach dem Abendprogramm der Privatsender stand ihr gerade nicht der Sinn. Vielmehr schaltete sie den PC ein und berichtete dort ihren Freunden von dem Tag. 
Sie verbrachte oft Stunden vor dem Rechner und bis vor einiger Zeit traf sie sich mit interessanten Menschen. Doch nachdem sie das Schema F durchschaut hatte, beschränkte sie sich auf das Chatten. Denn oft lief es so: Der virtuelle Jaques-Piere mit dem cum laude Abschluss von der Ecole Normale Superieure Universität, dem eloquenten Wortfluss auf dem Bildschirm und baumstammdicken Oberarmen im Profilbild entpuppte sich allzu oft als der reale Hans-Dieter mit der Dauerkarte für den VfL Bochum, dem Wortschatz eines CASIO Taschenrechners und dem Aussehen eines sibirischen Tanzbärs. Falls ein Mann das hielt, was das Profil versprach, krochen früher oder später Marotten ins Tageslicht, die Hand in Hand mit den Neigungen des Hausmeisters gingen. Karina sah sich als sozialer Ankerpunkt für geistig deformierte Männer. Dieser Brief bestätigte dies wieder einmal eindrucksvoll. 
Als sie ihre Augen kaum noch offen halten konnte, machte sie sich bettfertig. Sie betrachtete ihr Spiegelbild und fühlte sich nur halb so attraktiv, wie sie eigentlich war. Schuld daran waren die Photoshopkünstler gängiger Hochglanzmagazine, die suggerierten, dass Karinas regelkonformer BMI doch einstelliger Natur sein musste, um das Adjektiv gutaussehend zu verdienen. Zudem dachte sie, dass die Narbe auf ihrer linken Augenbraue, ihr Gesicht zu Quasimodo 2.0 mutieren ließ. In Kindertagen ließ sie sich vom Fahrrad fallen, um so die mitfühlende Aufmerksamkeit der Mutter zu erhalten. Doch folgte darauf ein ungemütliches Wiedersehen mit dem Zollstock, da das teure Rad nun nicht mehr zu gebrauchen war. Manchmal sind Kinder wie Hunde: Prügelt man sie lange genug, glauben sie mit der Zeit es verdient zu haben. Daher kümmerte sich Karina liebevoll um ihre Frau Mama, besuchte sie und telefonierte jeden Abend kurz mit ihr. Genau wie sie es in jenem Augenblick vorhatte, doch bevor sie die Nummer wählen konnte, klingelte es. Sie hielt den Hörer ans Ohr und hörte nur Rauschen, bis sie ein deutliches Keuchen vernahm. »Brauchen Sie Hilfe? Kann ich Ihnen helfen?« Sie hatte eine sehr naive Ader, die auch hier zum Vorschein kam, da sie wohl einen Asthmakranken vermutete, dem seine Medizin abhandengekommen war und sich mit letzten Atemzügen ans Telefon gerobbt hatte. Doch war dem nicht so, denn schon piepte das Besetztzeichen in ihr Ohr. Sie beäugte den Hörer für eine Weile, schüttelte den Kopf, ehe sie auflegte und kurz darauf mit der Mutter telefonierte. Mit dem Schlagen des alten Kirchturms auf dem Platz gegenüber, erlosch das Licht in ihrer Wohnung und sie legte sich schlafen. Also geben wir ihr doch für diese eine Nacht etwas Privatsphäre und Gelegenheit Kraft zu sammeln. Denn gerade letzteres wird sie für den morgigen Tag bitter nötig haben.

Die Sonne erhob sich am nächsten Morgen zum letzten Mal in Karina Buttlers Leben. Der Abdruck des Kopfkissens bedeckte ihre linke Gesichtshälfte. Der in Japan hergestellte Wecker war dafür verantwortlich, dass ihre deutsche Tugend der Pünktlichkeit heute nicht zum Tragen kam. Für eine Dusche fehlte die Zeit und so griff sie das Textil vom Boden und rannte mit zerknittertem Gesicht und Klamotten aus der Wohnung. Dass sie heute mit der Straßenbahn anstatt dem Auto zur Schule fuhr, ließ sich auf eine Marotte von Karina zurückführen. Denn machte sie gewisse Tätigkeiten von Anderen abhängig. Wenn zum Beispiel Nico aus ihrer Klasse, in der ersten Stunde davon prahlen würde, die Laura ‚klar‘ gemacht zu haben, muss sie eine Woche lang die Straßenbahn fahren. Dazu wäre sie noch verpflichtet, ein Gespräch mit einem Passanten anzufangen. Auf diese Weise lernte sie vor einigen Jahren ihre große Liebe Steffen kennen, die ihr jedoch von einer gewissen Kathrin ausgespannt wurde. Beide zogen daraufhin nach Spanien und noch immer trauerte sie ihm hinterher. Sie träumte davon, eines Tages nach Spanien zu ziehen, um ihn zurückzugewinnen. Seit ihrem Urlaub dort, mochte sie das Land und die Menschen. Da zu leben wäre für sie, mit oder ohne Steffen die Erfüllung. Doch könnte sie nicht ohne weiteres ihre pflegebedürftige Mutter so zurücklassen. Zudem verabscheute sie zwar ihre Arbeit wie ein ausuferndes Pilzgeflecht, doch fehlte ihr einfach der Mumm alles hinzuwerfen mit der bloßen Aussicht auf Unsicherheit.
Von der Haltestelle stapfte sie eilig durch den Schnee in die Schule. Wie immer wartete Norman vor dem Klassenzimmer. »Nicht jetzt!« rief sie ihm zu, noch ehe er etwas sagen konnte und betrat außer Atem ein leeres Zimmer. »Die ham die Stunde ausfallen lassen Schätzchen, da de nich‘ da warst. Also schön die Bälle flach halten.« sagte er, während er sich mit dem Arm an den Türrahmen lehnte und sie ausgiebig musterte. »Mann, Mann, so durchgeschwitzt hab’sch dich ja erst nen paar Mal in meinem Bett gesehen.« Sie atmete kurz durch, ehe sie unter seinen Arm in den Flur ging. »Räum den Hof vom Schnee, Norman.« erwiderte sie trocken und verschwand daraufhin im Lehrerzimmer. Das Lehrerzimmer schwoll vor Klischees über, da die Pädagogen es mit Nebelschwaden und kaffeegetränktem Atem füllten. Die Schule war dafür bekannt, ihre Lehrer so zu verschleißen, wie es nur eine übergewichtige Prostituierte mit ihren Freiern vermochte. So scharten sich in jenem Raum auch die raubeinigsten Gladiatoren ihrer Zunft, die härter waren, als das Sammelsurium von wilden Bestien, welche täglich in die Arena des Klassenzimmers einfielen. Ihr Umgang war schroff aber ehrlich. Karina hatte einige Male probiert Kontakt zu knüpfen, doch konnten beide Seiten wenig miteinander anfangen. Also handhabte sie es so, wie bei Besuch von entfernten Bekannten: Sie blieb nicht länger dort, als es die Höflichkeit vorschrieb. »Kathrin, da wurde was in deinem Fach gelegt.« rief Tino ihr zu, der Mathelehrer mit dem selbst gestrickten Pulli, den sein Bauch zur Grenze der ästhetischen Belastbarkeit dehnte. Sie packte ihn bei seinem spärlichen Haar und brachte ihn mit einem Tritt in seine für ihn redundanten Fortpflanzungsorgane auf die Knie. Daraufhin ließ sie Fäuste in sein Gesicht hageln und schnaubte nach jedem Schlag: »Mein - Name - ist - Karina - K - A - R - I - N - A!« Solche gewaltvollen Phantasien waren für Karina keine Seltenheit geworden und flimmerten immer dann über die Leinwand ihres Kopfkinos, wenn jemand ihren Namen mit der Schlampe verwechselte, die ihren Steffen dreist ausgespannt hatte. Äußerlich reagierte sie dennoch stets freundlich und zurückhaltend. So nickte sie kurz zu Steffen und nahm einen Umschlag aus ihrem Fach. Noch bevor sie ihn öffnen konnte, wurde sie von Frau Krane unterbrochen. »Frau Buttler, der Direktor möchte sie gerne sprechen.« Frau Krane war Sekretärin, die ihre Emanzipation gleich doppelt in ihrem enganliegenden Kleid zur Schau stellte. Einige Lehrer pfiffen ihr hinterher, als sie und Karina die Tür hinter sich schlossen. Mitsamt einer peinlichen Stille gingen sie zum Büro von Herrn Weinbach, dem langjährigen Schulleiter. »Ahh Frau Buttler, da sind sie ja, nehmen sie bitte Platz.« Herr Weinbach hatte die Pedanterie mit Löffeln gefressen, und wenn sie könnte, würde sich selbst eine Atomuhr nach ihm stellen. Er führte die Schule mit harter Hand, konnte jedoch unliebsame Artikel in der Presse nicht verhindern. »Darf ich Ihnen Oberschulrat Scharnowski vorstellen.« Ein älterer Herr stand neben dem Tisch und schaute aus dem Fenster, während er seine Hände hinter dem Rücken hielt. Er drehte sich flüchtig zu ihr und nickte ihr zu, ehe der Direktor fortfuhr. »Ich möchte auch ohne Umschweife gleich zum Punkt kommen. Können Sie mir verraten, was das hier ist?« Er zeigte auf eine VHS-Kassette, auf der stand: ‚Die knallige Lisa sorgt für Sex beim Nachsitzen Vol. 34‘ Sie beäugte verwirrt die Schachtel. »Das haben wir in dem Videorekorder gefunden, den Sie zuletzt benutzt haben.« »Herr Weinbach, ich kann Ihnen versichern, dass...« »Nico Meyer aus ihrer Klasse hat mir schon persönlich versichert, dass Sie diesen Schund tatsächlich mehrere Male im Unterricht gezeigt hatten.« »Das ist eine Lüge, Herr...« »Ich habe mich mit Herrn Scharnowski verständigt, dass diese Schule keinen Skandal dieser Tragweite mehr vertragen kann. Ich weiß nicht, was Sie sich dabei gedacht haben und ehrlich gesagt, interessiert es mich auch nicht. Sie sind hiermit fristlos entlassen und können sich morgen noch von Ihrer Klasse verabschieden. Die entsprechenden Unterlagen holen Sie sich dann bitte bei Frau Krane ab.« »Herr Weinbach, ich bitte Sie, das...« »Das ist alles, Frau Buttler, darf ich Sie nun bitten.« sagte er und zeigte mit ausladender Geste zur Tür. Karina taumelte aus dem Raum und erst später, als sie sich in ihr leeres Klassenzimmer gesetzt hatte, kamen ihr die Tränen. In dem Augenblick kam Hausmeister Norman zu ihr in den Raum. »Hey Karina, wie wär‘s, wenn wir heute... Was is‘n los? Is‘ was passiert?« fragte er überrascht und wirkte in dieser Sekunde tatsächlich nicht wie ein notgeiler Pavian auf Brautschau. »Die ham mich rausgeworfen.« schluchzte sie kopfschüttelnd und wischte seine Hand von ihrer Schulter, als sie daraufhin wortlos das Schulgelände verließ. »Du kannst mich jederzeit anrufen, wenn de magst.« rief er ihr noch hinterher.
Als sie in der Straßenbahn nach Hause fuhr und das Mascara ihr Gesicht beschmierte, erinnerte sie sich an jenen Umschlag aus dem Lehrerzimmer. Sie nahm ihn aus der Tasche und fand ein Polaroid Foto darin. Das Bild zeigte ein Fenster hinter dem sie ihre Möbel erkannte. Sie drehte sich um und musterte ihre Umgebung. Ihre Finger liefen rot an, als sie das Foto in ihrer Hand zermalmte und quer durch die Straßenbahn warf, um auf dem kahlrasierten Hinterkopf eines Passanten, der sich daraufhin umdrehte und sie aufforderte, den Müll wieder einzusammeln. »Fick Dich!« platzte es mit der Eloquenz eines BILD-Redakteurs aus ihr heraus. Da sich der Passant als Kontrolleur entpuppte, lief sie den Rest der Strecke nach Hause. Vor der Haustür blieb sie kurz stehen und betrachtete die Fensterreihe gegenüber ihrer Wohnung. Ihr fiel es offensichtlich schwer, das Ausmaß der Situation richtig einzuschätzen. Verbarg sich hinter allem etwa ein harmloser Scherz eines vereinsamten Fotojournalisten, der nach einem Unfall durch ein Gipsbein an einen Rollstuhl gefesselt wurde und zunächst aus Langeweile mit seiner Kamera und Teleobjektiv durch das Fenster die Marotten seiner Mitmenschen beobachtete und dessen voyeuristisches Vergnügen schon bald der obsessiven Neugierde wich? Oder steckte doch ein bösartiger Sexualverbrecher dahinter, der ahnungslose Frauen mit Hilfe eines Schlips erdrosselte, sich selber der ‚Krawattenmörder‘ nannte und in ihr nun das nächste Opfer auserkoren hatte? Karina hatte keinen Schimmer und wollte es wohl auch nicht wissen. Kurze Zeit später ging sie in ihre Wohnung, setzte sich auf den Stuhl und drehte die Lautsprecherboxen auf. Sie tat das, was sie in solchen Situationen am liebsten tat: wie ein autistischer Epileptiker zum Takt ihrer Musik wippen und den ganzen Ballast verdrängen. Das Klopfen an der Tür bemerkte sie erst, als sie die Klänge gegen das Flimmern auf dem Bildschirm eingetauscht hatte. Vor ihr stand der Nachbar. »Hallo Karina, macht‘s Dir was aus, die Musik etwas leiser zu drehen? Ich muss morgen früh raus und wollte noch etwas Schlafsand abbekommen.« »Tut mir leid, kein Problem, sie ist ja auch schon aus.« »Danke. Sag mal, war bei Dir heute auch die Scharnowski in der Wohnung?« »Bitte? Wer?« »Die Vermieterin war heute mit irgendeinem komischen Kauz in meiner Wohnung und faselte irgendwas von nem Investor, der sich für das Haus interessierte.« »Hast Du den Mann gesehen, wie sah der denn aus?« »Den hab‘ ich nicht wirklich registriert. Das war glaub‘ ich ihr Mann aber die sind beide ziemlich schnell wieder abgedüst.« »Hmm, OK, danke dennoch und tut mir leid wegen der Musik.« »Kein Ding, schlaf gut!« Sie verriegelte die Tür zweimal, ging mehrfach durch die Wohnung, schaute mit einer Nagelfeile bewaffnet in die Schränke, um sich zu vergewissern, ob sich dort nicht ein geisteskranker Clown versteckt hielt. Überall ließ sie das Licht brennen und stieg kurz darauf in die Badewanne. Gerade als sie mit dem Schwamm über ihren Körper schrubbte, hörte sie, wie sich die Badtür öffnete. Starr vor Angst verharrte sie auf der Stelle, bis plötzlich mit einem Ruck der Duschvorhang aufgerissen wurde und sie eine Hand auf der Schulter spürte. Sie schrie lauthals und verlor das Gleichgewicht. Verzweifelt suchte sie Halt an den Kacheln, doch fiel sie mit dem Kopf voran über den Wannenrand. Ihr Kopf schlug gegen die Emaile des Waschbeckens. Benommen schlang sie ihre Hand um den Duschvorhang und versuchte damit sich aufzurichten. Der Duschvorhang riss Stück für Stück von der Duschstange. Der untere Teil von Karinas Körper lag noch in der Badewanne, während der obere Teil aus der Wanne heraushing und ihr Kopf auf dem Boden lag. Aus dem Duschkopf rieselten noch immer Wassertropfen auf ihre Beine und verschwand blutverschmiert in dem Wasserstrudel des Abflusslochs. Aus dem Nebenzimmer liefen die letzten Takte von Bernard Herrmanns The Murder aus dem Film Psycho.
Mit dem Klingeln des Telefons erlangte Karina wieder das Bewusstsein. Mit schmerzverzerrtem Gesicht raffte sie sich auf und hielt ihre Hand über die Beule auf der Stirn. Wankend ging sie ins Wohnzimmer und griff zum Hörer. »Karina? Bist Du es?« wimmerte es von dem anderen Ende. Die Stimme musste sie wohl zuerst an einen vorpubertären Fan erinnert haben, der aufgelöst ins Telefon heulte, weil sich die Lieblingsband getrennt hatte. Doch es war ihre Mutter, welche sonst nur autoritär und einsilbig ins Telefon diktierte. »Mama? Ist was passiert? « „Ich glaub‘, jemand war in meiner Wohnung, hier ist alles verwüstet und ich weiß nicht ob sie noch da sind. Ich höre die ganze Zeit Schritte. Ich hab‘ solche Angst. Bitte, bitte komm‘ vorbei.« »Was? Ruf sofort die Polizei, hörst Du Mama? Ruf sofort die Polizei und geh zu Deinem Nachbarn. Ich komm‘ so schnell wie möglich vorbei!« »Gut, gut, bitte beeil Dich!« Karina legte auf und bemerkte erst beim Überstreifen ihrer Sachen den Gasgeruch in der Wohnung. Da das Atmen in der Küche unmöglich war, öffnete sie alle Fenster und griff abermals zum Hörer. Zweifelsfrei wollte sie die Polizei rufen, doch aus dem Telefonhörer dröhnte das Besetzzeichen. Hastig verließ sie die Wohnung und gerade als sie die Treppen hinab steigen wollte, hörte sie, wie die Kellertür aufsprang und Schritte durch den Hausflur hallten. Natürlich penetrierte sie den Lichtschalter stakkatoartig wie ein panisches Gnu vor den scharfen Klauen eines hungrigen Tigers, doch selbstredend blieb der Flur im Dunkeln. Die Schritte wurden immer deutlicher und kamen stetig näher. »Hallo? Wer sind sie?« rief sie und versuchte ihre Angst hinter einer klaren Tonlage zu verbergen. Als sie nun ein Summen hörte, schaute sie zwischen dem Geländer herunter. Sie sah die Konturen eines Mannes, der nun stehen blieb und nach oben schaute. »Guten Abend Frau Buttler. Ich hoffe Sie sind bereit.« sagte er und stieg die Treppen weiter hinauf. Karina wusste nun, dass dies nicht ein verirrter Sternsinger auf der Suche nach einer großzügigen Spende war, sondern ihre Situation nun unausweichlich auf das Grand Finale zusteuerte. Sie rannte ins obere Stockwerk und kletterte über die Leiter aufs Dach. Ohne diese vermaledeite Todesangst, wäre ihr sicherlich die tolle Aussicht auf die Stadt aufgefallen, die zu dieser Uhrzeit einfach umwerfend war, jedoch nicht so umwerfend, wie die Explosion, die sie kurz darauf zu Boden riss. Ihre Ohren schrillten und sie sah wie Rauchschwaden über das Dach aufstiegen und flackerndes Feuer die Straße erhellte. Vor ihr verflüchtigte sich das Yang des Ziegenhaarteppichs in den Nachthimmel. Schon kurze Zeit später hörte sie, wohl noch weniger erfreut, wie jemand die Leiter zum Dach hinaufstieg. Sie wich zum äußersten Rand des Daches zurück. Vor ihr baute sich der Mann aus dem Hausflur auf. Er trug einen Hut und einen grauen Regenmantel. Da der Hut tief ins Gesicht ragte, konnte sie nur seine Hasenscharte erkennen. »Was wollen sie von mir?!« schrie sie ihn an. Mit hoher Stimme erwiderte er: »Karina, habe ich Sie nicht gewarnt, sie versucht auf das Unvermeidliche vorzubereiten? Sie wussten doch, was passieren wird. Was jetzt passieren wird.« »Sie Freak! Ich kenn‘ sie nicht mal. Was wollen sie von mir?!« »Oh aber natürlich kennen Sie mich, meine Teuerste. Natürlich nicht so gut, wie ich sie kenne. Es enttäuscht mich ein wenig, dass sie sich nun überhaupt nicht an mich erinnern können aber ich denke, dass das der momentanen Situation geschuldet ist.« »Was soll die Scheiße?! Lassen sie mich in Ruhe sie krankes Schwein! Ich habe Ihnen nie was getan!« »Meine Teuerste, sie können sich nicht ausmalen, wie viel sie für mich getan haben. Tatsächlich bin ich Ihnen zum Dank verpflichtet und möchte mich auf diese Weise bei ihnen revanchieren.« »Was soll das?! Lassen sie mich gehen, sie widerlicher Psychopath!« Sirenen heulten unter ihr auf und Menschen säumten die Straße. »Oh Gott, da oben ist noch jemand, seht doch, da steht jemand!« rief eine Frau aus der Menge. »Hören Sie das, Karina? Sie sind da und damit sind wir am Ende ihrer Reise angekommen. Es ist nun an der Zeit sich zu verabschieden.« Der Mann griff in seine Tasche und zückte meine Pistole. »Bitte nicht! Hilfe! So hilft mir doch jemand!« krakelte sie. Mit dem Schlagen des Kirchturms schaute ihr vom Drehschwindel befallener Blick nach unten, wo die Flammen aus ihrem Fenster loderten. In dem Augenblick verlor sie das Gleichgewicht und fiel in die Tiefe.
Natürlich starb Karina nicht. So etwas hätte ich niemals zugelassen. Sie fiel in das Sprungpolster und bekam nur ein paar Prellungen ab. Bitte verzeihen sie, mir sind wohl meine Manieren abhandengekommen, da ich mich Ihnen noch nicht vorgestellt habe. Mein Name ist Niklas Elster und meine Kindheit verbrachte ich unter der prügelnden Hand meines Vaters, der leider auf tragische Art und Weise in unserem brennenden Familienhaus ums Leben kam. Unglücklicherweise war ich nicht ganz gründlich bei der Beseitigung meiner Spuren und so verbrachte ich einige Zeit in einer geschlossenen Anstalt für geistig gestörte Schwerverbrecher. Dass dieser Ort nicht der erfreulichste Platz war, den man sich vorstellen kann, muss ich ihnen sicherlich nicht sagen. Zunächst fand ich großen Gefallen daran, einige Kleingeister in den Suizid zu treiben, doch mit der Zeit wurde mir die Einöde einfach zu viel und so entließ ich mich. 
Karina lernte ich vor einigen Monaten in einem Chat kennen und ich brauchte nicht lange, um zu erkennen, was für eine besondere Person sie ist. Obwohl ich eingestehen muss, dass ich ihr meine persönliche Geschichte verheimlichen musste, aus Angst sie zu verschrecken. Doch mit der Zeit verflog ihr Interesse an mir und nur meine Faszination für sie blieb. Ich fing an ihr zu folgen, sie zu beobachten und konnte mich virtuell verdeckt mit ihr unterhalten. Schon bald realisierte ich, wie unglücklich sie mit ihrem Leben war. Die Plagegeister auf der Schule, die Einöde zu Hause und der Traum von Spanien, der so unsäglich weit in der Ferne schimmerte. Sie verdiente ein anderes Leben und da sie das nicht mit mir haben wollte, sollte sie dieses zumindest für sich haben.
Ich sorgte mit monetärem Anreiz dafür, dass Nico aus ihrer Klasse die VHS in das Videogerät platzierte und eine entsprechende Aussage vor dem Direktor tätigte. Des Weiteren erhöhte ich den Druck, indem ich mich als Journalist vor dem Schulleiter ausgab und erkundigte, ob es Usus ist, pornografisches Material an der Schule zu zeigen. Da ich wusste, dass Karina noch sehr an ihrer Mutter hing und sie niemals unbeaufsichtigt verlassen könnte, half ich ihr auch in dieser Sache. Sie glauben ja nicht, wie einfach es war, die gläubige Frau mit umgedrehten Kruzifixen zu verschrecken. Sie hörte vor lauter Angst noch Tage danach meine Schritte durch die Wohnung schreiten und das veranlasste sie, freiwillig in ein Heim zu gehen. Ich kannte Karina mittlerweile sehr gut und wusste, dass sich nach der Kündigung in ihre Wohnung verkriechen würde und früher oder später einknicken würde. So gab ich mich vor der Vermieterin als vermögender Investor aus und gelangte so in ihre vier Wände. Durch ihre Unterlagen fand ich heraus, dass sie eine Versicherung auf die Wohnung abgeschlossen hatte, die auch einen Brandfall abdeckte. Das war das letzte Puzzlestück.
Sie liegt momentan im Krankenhaus und es geht ihr den Umständen entsprechend gut. Davon habe ich mich selbstverständlich persönlich überzeugt, natürlich nicht so direkt, wie ich es gerne hätte. Sie glaubt wohl alles verloren zu haben, doch gerade jetzt steht ihr nichts mehr im Weg. Ich schenkte ihr ein neues Leben, einen neuen Anfang. Sie kann nun ihre Träume erfüllen und ich werde ihr selbstredend weiterhin den richtigen Weg weisen. Ich möchte nun nicht unhöflich wirken aber wenn Sie mich doch bitte entschuldigen, ich muss noch meinen spanischen Wortschatz auffrischen.

Montag, 11. Juli 2011

Der Park (grausame überlange Konzeptversion)

Die Sonne wirft lange Schatten, als sie durch buntes Geäst streift und den Park in sanftes Orange taucht. Hier und da verweilen Menschen auf dem Gras oder den Bänken, während andere auf dem Parkweg flanieren. Die Vögel tanzen von Ast zu Ast und ihr Gesang verwischt die Unruhe der Stadt. Eine Ente lässt die Haut des Teichs Falten treiben, als sie sich nach ihrem Anflug zu ihren gefiederten Artgenossen gesellt. Zwischen den Bäumen und Büschen drängt sich ein Hügel zu einer Grasfläche hinauf, über die ein Mädchen mit Fahrrad eilt. Sie und ihr Rad heben kurz ab, als sie den kleinen Berg wieder hinunterfährt. Aufgeschreckter Flügelschlag durchdringt den Park, als ein Schwarm Tauben vor dem Zweirad entflieht und über die Köpfe eines Paares fliegt. Am Ende des Hügels biegt sie auf den Gehweg und passiert zwei Frauen auf einer Parkbank, während der Fahrtwind hinter ihr durch die Grashalme streift. Kurz darauf fährt sie an einem Baum vorbei, an dem ein Mann lehnt, ehe sie vor der Stadt an einem älteren Herrn vorbeizieht, der gekrümmt auf einer Bank sitzt.

Neugierig streunt der unbeschwerte Sommerwind über die mit Blüten besetzten Köpfe der Pflanzen und lässt kleine weiße Flugschirme durch die Luft tanzen. Die Befestigung der Achse schimmert matt im Mittelpunkt des Rades. Das Zahnrad darunter dreht sich rasend und unermüdlich vorwärts. In Ketten eingespannt, folgt es jenem ungezügelten Drang, der die Pedalen auf und abwärts treibt. Verschwommen hasten die Silhouetten der Reflektoren auf den Verästelungen der Speichen, während das Schutzblech über den rauen Belag des Radschlauchs stolpert. Auf dem Fahrrad sitzt das Mädchen, welches über die zerbeulte Grasnarbe des Parks eilt und dabei auf dem Sattel hin und her rutscht. Beide Hände umklammern die Rillen der Lenkgriffe, als ihre Arme von der Fahrt zittern wie der Muskel in ihrer Brust, der die Aufregung durch ihren Körper pumpt. Der Schweiß durchzieht ihr T-Shirt, auf das vereinzelte Bluttropfen von ihrem Kopf rinnen. Ihre Haare beugen sich dem Fahrtwind und sind doch so kurz, dass es aus der Ferne schwerfällt zu entscheiden, ob es sich um Junge oder Mädchen handelt. Aus ihren geweiteten Pupillen hasten die Blicke über die Grashalme und übersehen jedoch jene Spaziergänger, die vor ihrem drahtigen Esel zurückweichen. Als sie einen Hügel erreicht, lässt der Schwung des Fahrrads sie vom Boden abheben und einen erschrockenen Atemzug durch ihre Lungen ziehen. Verschwommen driften jene Erinnerungen an ihren Augen vorbei, als sie die knarzende Tür ihrer Wohnung öffnete und Sonnenstrahlen aus dem Flur in das Treppenhaus sprangen.
Von der Wandverkleidung schälte sich die Farbe und warf hallend die Schritte des Mädchens zurück, welche die Treppen hinab hüpfte, bis eine ältere Stimme sie zum Stillstand brachte. »Hey Tanzfee, wohin des Weges?« Sie lugte zwischen dem Treppengeländer nach oben und erwiderte: »Ach keine Ahnung Paps, einfach mal durch die Stadt fahren und schauen was da so geht.« »Bleib aber nicht allzu lange, wenigstens bis deine Mutter von der Arbeit zurückkommt.« schallte es in fürsorglicher Ernsthaftigkeit hinunter. »Abgemacht. Und du ziehst dir bis dahin was andres an, als den peinlichen Bademantel von Mama und schreibst nen bisschen an deinem Buch weiter.« »Hey, der ist pure Inspiration und außerdem ...« rief er ihr nach, doch sein Satz prallte unvollständig an der Haustür ab, die sie bereits mit einem Knall hinter sich geschlossen hatte.
Die schwelende Hitze flimmerte über dem Asphalt und die Sonne bedrängte ihre Augen zum Blinzeln. Sie löste die Kette des Fahrrads und bewegte es mit kräftigen Tritten die Straße entlang, ehe sie eine errötete Ampel wenig später zum Stehen zwang. Pulsierende Notenköpfe mit ausgestreckten Hälsen und flatternden Fähnchen trieben kurz darauf aus der Ferne in ihre Ohren. Umgehend schwenkte sie den Lenker um und folgte der Musik in ein abgelegenes Viertel. Gleich neben einem Café, das auf dem Gehweg seine Tische und Stühle ausbreitete, stellte sie ihr Rad ab. Sie lief unter einer Brücke hindurch, auf der die Straßenbahn hinüberpolterte und passierte den graffitiüberzogenen Beton der Häuser. Auf der Straße flanierte eine Vielzahl von Menschen unterschiedlicher Herkunft und begrüßte sich mit Umarmungen oder einem Lächeln. Musiker trugen ihre Instrumente auf verlebte Stuhlpolster und wischten sich den Schweiß von der Haut. Entlang des Fußwegs bräunte sich das Fleisch auf dem Grill und füllte die Luft mit seinem Geruch. Hier und da trieben die Ventilatoren die Hitze aus den Fenstern, durch denen einige Köpfe ragten und sich angeregt mit den Passanten auf dem Asphalt unterhielten. Auf einem Balkon spielten zwei ältere Männer in Unterhemden mit den Holzfiguren auf einem Brett. Immer wieder sprangen Kinder zwischen den Erwachsenen vorbei und brachten Bälle zum Hüpfen oder seifenumhüllte Blasen zum Schweben. Im rastlosen Durcheinander begegneten ihr hin und wieder einzelne Musiknoten von den probenden Künstlern.
Als sie durch die Straße flanierte bog sie wenig später um die Ecke und ihr Blick fiel auf eine kleine Menschentraube, die vor einer Musikergruppe tanzte. Auf der Treppe saßen vereinzelte Menschen und bewegten sich im Takt der Klänge. Für einige Momente hielt sie ihre Schüchternheit auf Abstand, ehe sie sich schließlich doch zu ihnen gesellte. Im Takt jener Musik, die die alltagsgraue Fassade mit losgelöster Melodie einfärbte, tauchte sie ein und tanzte. Als ein Hydrant seine Poren öffnete, fielen zahllose Wassertopfen herab und sie spürte jeden einzelnen Tropfen, der ihre Haut bedeckte. Kurz darauf erspähte einen Jungen, der sie von der Wand aus beobachtete und dessen Blick prompt zu Boden hastete, als sich ihre Augen begegneten. Sie ging zu ihm, umklammert seine Hand, zog ihn und sein überrumpeltes Gesicht in den Wasserstrahl und forderte ihn zum Tanzen. Seine Bewegungen waren zunächst ungelenk, als sie ihn an den Händen führte, bis er sich an ihre Nähe gewöhnt hatte, und mit dem Takt verschmolz. Zusammen tanzten sie in der Menschenmenge, die der Hydrant mit Wassertropfen übersäte, die sich danach glitzernd auf den Asphalt der Straße legten. Als sich die Musiker daraufhin in den Schatten zurückzogen, kamen die Musik und der Hydrant zur Ruhe. Der Junge stand vor ihr, hielt sie noch immer bei der Hand und wanderte mit seinen Augen über ihre roten Wangen. Sie betrachtete ihr nasses Kleid, ehe sie zu ihm hochschaute. Wortlos wurden ihre Blicke hin und zurück geworfen, während die Menschen an ihnen vorbei zogen. Er strich ihre Haarsträhne zur Seite und legte seine Lippen auf ihre. Ein Schweißtropfen perlte von seiner Nasenspitze auf ihre Haut. Sie wich von ihm und tat das, was jedes Mädchen ihres Alters in dieser Situation getan hätte. Sie ohrfeigte ihn und rannte weg. Eilige Schritte trugen sie daraufhin die Straße zu ihrem Fahrrad entlang.
Wenige Augenblicke später erreichte sie gleich hinter dem Krankenhaus den Park, über dessen betonierte Rasenbegrenzung sie kopfüber auf das Gras stolperte. Das Rad stand Kopf und ächzte, als sich das Hinterrad weiter in der Luft sich drehte. Grashalme übersäten ihre Hände und mit schmerzverzerrtem Blick griff sie sich an den Kopf. »Du musst schon aufpassen, wohin du fährst, das ist hier schließlich kein Spielplatz.« informierte sie ein Spaziergänger vom Bürgersteig. Flüchtig blickte sie zur Straße, ehe sie sich aufraffte, auf das Fahrrad setzte und voran preschte. Gerade als der Hügel ihr den Boden unter den Füßen nahm, wollte sie den Lenker umschwenken und zurück in das Viertel fahren. Jedoch sah sich nun mit dem Sprung und einer Taubengruppe direkt vor ihr konfrontiert. Sie landet mit beiden Rädern auf dem Gras, hört die Tauben davoneilen und daraufhin einen Schrei. Kurz dreht sie sich um und sieht einen Mann auf einer Decke mit erhobener Faust hinter ihr her rufen, ehe sie den Weg zurück in die Stadt sucht.

Im Geäst eines Busches verirrt sich eine rastlose Brise und löst ein Blatt von seinem ausgestrecktem Ast, das darauf zu Boden taumelt. Nicht weit entfernt umklammert eine Hand die andere und wiegt sich im leichten Schritt eines Paares, das über die Wiese spaziert. Der junge Mann mit dem Anzug von der Stange nimmt in seinem Arm die löchrige Decke in den Schwitzkasten, während ihn die Krawatte wiederum fest im Griff hält. Bestickte Blumen verzieren das Sommerkleid der Frau, das hier und da mit Fingerspitzen über ihre Beine streicht. Sie trägt einen Korb, hinter dessen Geflecht verträumt einige Dosen und Gläser schlummern. Ihre flippigen Badeschlappen machen immer wieder mit floppenden Geräuschen auf sich aufmerksam, wenn sie gegen ihre Fußsohlen schlagen. Das Paar erreicht den Grashügel, von dem aus der gesamte Park überblickt werden kann. Suchend wandern die Augen nach ihrem Platz auf der Wiese, bis die Abendsonne ihren ausgestreckten Finger erröten lässt und es freudetrunken aus ihr herausplatzt: »Dort, dort haun wir uns hin. Na komm schon!« Mit einem Ruck zieht sie den Mann hinter sich her, dem nichts weiter übrig bleibt, als ihr zu folgen.
Kurz darauf entfaltet er die Decke, durch deren Löcher verschmitzt kleine Grasbüschel herauslugen. Ständig landen seine Blicke auf dem rastlosen Zeiger der Armbanduhr, während er den Korb entleert. »Hastes etwa eilig?« erkundigt sie sich schmunzelnd. »Der Film fängt gleich an und wir müssen uns beeilen, wenn wir ihn nicht verpassen wollen.« Kichernde Küsse springen von ihren Lippen auf seine Stirn und vertreiben die Furchen. Mit einem Seufzer lässt sie sich danach auf die Decke fallen, streckt Arme und Beine aus, bevor sie mit ihnen ins Meer der Grashalme taucht. »Lass doch hier bleiben. Was für ein geiler Tag heute ist. Für den Geruch des Grases hier könnt‘ ich glatt sterben. Das riecht voll nach Sommer. Ich find den Park in dieser Jahreszeit so dufte. Wir sollten das viel öfters machen.« sagt sie und betrachtet, wie unbeschwerte Wolken auf dem Himmel entlangtreiben. Einige Augenblicke ziehen vorbei, bis er fragt: »Sag mal, bist du eigentlich zufrieden? Also, naja, bist du glücklich trotz der schäbigen Wohnung und den ganzen unbezahlten Rechnungen?« Sie dreht sich zu ihm und streichelt über seinen silbernen Ring. »Ja klar, das macht ja diese Momente hier so besonders. Es ist so befreiend mal aus dem Alltagskotz raus zu kommen. Ja und ebendrum bin ich glücklich, weil wir neben der Arbeit noch Zeit für uns haben. Alles ist fast so, wie ich‘s mir vorgestellt hatte.« »Fast?« erwidert er. »Naja, eigentlich fehlt zum Rundumsorglospaket nur noch unsre Wette. Fallste dich noch dran erinnern kannst.« Er überlegt kurz, bevor ein flüchtiges Lächeln über seine Lippen eilt. »Und dann wäre für dich alles perfekt? Dann wärst du wunschlos glücklich? « Sie antwortet mit einem Nicken.
In diesem Augenblick erreicht das Mädchen auf dem Rad den Grashügel und steuert mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf eine Vogelgruppe, die der geräderten Bedrohung nur knapp entkommen kann. Ihr aufgeschreckter Flügelschlag hastet über den Kopf des Mannes, der kurz darauf die Hinterlassenschaft der gefiederten Plage auf seinem Anzug erspäht. So verdreckt wie der Fleck, sind die Worte, die er dem Mädchen hinterher schleudert. Groll überzieht sein Gesicht, als er mit einem Taschentuch über den Makel auf seiner Arbeitskleidung scheuert. Als er vor ihrer ausgestreckten Hand zurückweicht, verfängt sich ein schaler Blick in ihren Augen, der sich entfremdet auf ihren Verlobten legt.
Verschwommen drängt sich jener vergangener Tag in ihre Erinnerung, als der Mond über die Dächer der Großstadt stieg und sich hinter aufgequollenen Wolken versteckte, die trächtig den Horizont füllten. Scharenweise drängelten sich die Schuhsohlen auf dem zertretenen Dreck des Bordsteins. Viele suchten Zerstreuung in diesen Gebäuden, die sich tagsüber mit dem tristem Grau der Stadt kleideten aber nun mit lauter Musik und bunten Farben überquollen. Unermüdlich warfen die Fahrzeuge grellen Schein auf den rissigen Belag der Straße, während sich ihr Lärm mit dem schweißgetränkten Geruch der U-Bahn vermischte. Auf dem Fußweg breitete ein kleines Café seine Tische und Stühle aus, auf denen die Stadtbewohner Platz fanden. Unter diesen geselligen Fremden saß auch das junge Paar. »Und jetzt Du! « sagte die Frau mit einem Grinsen. Der Mann musterte die Menschen um sich herum, bis er jemanden ausmachte.
»Der Herr dort, mit der gepflegten Wohlstandswampe und Frau am Tisch gegenüber, ist Landwirt. Seine Eltern, Gott habe sie selig, vererbten ihn einen Bauernhof samt Getier. Die Dame an seiner Seite trug früher einen wohlklingenden Familiennamen, der ein aufkeimendes Fernweh in der Brust auslöste, den sie vor einigen Jahren gegen die plump wirkenden Buchstaben ihres Ehemannes eintauschte. Heute ist es nur noch der hartnäckige Akzent, der die Wurzeln ihrer Herkunft verrät. Damit ist diese Mademoiselle keine käufliche Einwegbekanntschaft, statt dessen ist sie seine Ehefrau, die ihm nicht nur Schmetterlinge in der Magengegend, sondern auch eine Tochter bescherte.«
Er schwieg für einen Augenblick und beobachtete den älteren Mann, der sich mit der Frau unterhielt, unwissend gerade die Hauptfigur seiner Geschichte geworden zu sein. Nach einem Schluck aus dem Weinglas fuhr er fort.
»Da das Leben keine Aneinanderreihung von Seiten eines kitschigen Märchenbuchs ist, waren seine Schmetterlinge vor kurzem eine vom Aussterben bedrohte Metapher, weil ihm vielmehr Rechnungen ins Haus flatterten, als die kleinen Zeitgenossen im Magen. Es stellte sich heraus, dass das Lieblingspferd der Tochter ein reinrassiges Rennpferd war und so schleppte er das Pferd auf die Rennstrecke, platzierte sein gesamtes Geld auf den Vierbeiner und gewann. Das Haustier seines Sprösslings wurde zum Goldesel, was nicht nur Geld anzog, sondern auch die Aufmerksamkeit von Herrschaften in Nadelanzügen, die einen Anteil am Gewinn einforderten. Als konservatives Familienoberhaupt verschwieg er seiner Frau alles und unter dem Druck der Geldnot, Geheimnistuerei und Gefahr einer Kugel im Kopf schrumpfte seine Lebensfreude sowie Libido. Beides ging nicht unbemerkt an der vereinsamten Ehefrau vorüber. Die fehlende Nähe und der Besuch kleinwüchsiger Männern, die mit geheimnisvollen Blick in seinem Arbeitszimmer verschwanden, hatte für sie nur eine Bedeutung: die Neuausrichtung seiner sexuellen Orientierung. Diese Vorstellung trieb sie in eine Affäre. Was sie jedoch nicht wusste, war, dass es sich bei den kleinwüchsigen Männern mitnichten um die Ankunft an gleichgeschlechtlichen Ufern handelte, sondern um gierige Jockeys, die ein Stück Gewinn einforderten. Mit der Zeit wucherten ihm die Sorgen über das Gewissen und er stieg aus, ganz zum Missfallen der Nadelanzugsträger, die ihm einen Wink mit dem abgetrennten Pferdekopf zukommen ließen, den er eines Morgens in seinen blutdurchtränkten Bettlaken fand. Nun war der Mann völlig am Ende und fest entschlossen im Stall einen Schlußstrick zu ziehen. Doch ehe er unterhalb des Querbalkens baumeln konnte, traf er auf die Rennstreckenschurken, die beim Anblick des verzweifelten Ehemanns so gerührt waren, dass sie ihn überredeten sein Vorhaben aufzugeben. Als der Mann auf den Weg zu den Nadelanzügen war, rutschte er aus und fiel mit Schlinge um den Hals zu Boden. Da der Mann kein Geld für die Instandhaltung des Bauernhofs hatte, brach der marode gewordene Querbalken unter seinem Gewicht zusammen und landete mit dem jetzt unfreiwilligen Selbstmörder auf den verdutzten Verbrecherköpfen. Als der Mann wieder zu Bewusstsein kam, fand er im Schutt nicht nur gebrochene Genicke, sondern auch einen Koffer mit prall gefülltem Erpressergeld. Fassungslos vor Glück vergrub er die Schurken, das Pferd und ein dunkles Geheimnis, legte das Geld an und war seine Geldnöte los. Seine Frau hingegen war bereit ihren Mann zu verlassen, doch ihre Affäre ließ seit geraumer Zeit nichts mehr von sich hören. Da sie die ausgeprägte Lebensfreude und Libido ihres Ehemanns bemerkte, entschloss sie sich ihrer Ehe noch eine Chance zu geben. Doch die Ehefrau wusste nicht, dass ihr Liebhaber einer der Rennstrecken-Chefganove war, der zusammen mit seinen Schergen und dem abgetrennten Kopf des Lieblingspferdes der Tochter unter den Grashalmen ihres Gartens vergraben lag. Die Zwei feiern heute den Tag, an dem sie wieder zueinander gefunden haben und dass das Leben manchmal doch wie ein oder gar zwei Seiten aus einem kitschigen Märchen ist.«
Sie schaute ihn an und schüttelte mit einem Lachen kurz den Kopf. »Wow! Das hätt‘ ich jetzt nicht gedacht. « Mit genäselter Stimme erwiderte er: »Meine Teuerste, das Leben ist voller Überraschungen. Aber nun darf ich sie bitten, mir einen der Gäste vorzustellen. « Kurz beobachtete sie darauf die Leute auf den Stühlen und lenkte seinen Blick mit einem Nicken auf einen Jugendlichen, der alleine am Tisch saß und sich mit seinem Mobiltelefon beschäftigte.
»Also gut, der Typ dort ist nen Waise. Er floh vor den prügelgeilen Betreuern aus dem Heim. Er hielt sich mit Aushilfsjobs über Wasser. »Alles, was ich im Leben brauch‘, passt in meine Hosentasche« ist sein Motto. Gemeint ist das Foto seines Paps, das er immer bei sich trägt. Als er auf einem Bauernhof als Erntehelfer schuftet, findet er das Bild seines Daddys in der Brieftasche der Bäuerin. Die sieht ihm auch noch verdächtig ähnlich und beichtet alles. Dazu löhnt sie noch Schweigegeld. Doch das reicht ihm nicht, er will Vaters Tod rächen. Deswegen isser hier. Er plant, Paps Mörder und seine Mutter auszuradieren. Damit wird er heute nicht nur nen waschechtes Waisenkind, sondern auch bald einer der meistgesuchtesten Serienkiller des Kontinents.«
Sie hob ihre Augenbrauen, ehe ihn beide für eine Weile betrachteten, um jedoch schlagartig mit ihren Augen auf die Tischdecke zu flüchten, als der Jugendliche sie mit einem grimmigen Blick überraschte. Mit zusammengepressten Lippen murmelte sie: »Guckt er noch?« »Ich glaube nicht mehr.« antwortete er mit angestrengt. Abermals schreckten beide zusammen, als der Ober mit ahnungslos zu ihnen an den Tisch kam. »Ich hoffe es hat geschmeckt. Kann ich noch etwas bringen?« fragte er höflich und sammelte ihre Teller ein. Der junge Mann schaute zu dem Kellner, bis zwei Falten seine Mundwinkel umarmten und er ihm entgegnete:
»Sie mein werter Freund, führen ein Doppelleben. Auf der einen Seite sind sie der brave Anwalt für Familienrecht, doch da ihnen das Paragraphengeschubse die Einöde ins Hirn gebrandmarkt hat, sind sie auf der anderen Seite Schriftsteller frivoler Erotikgeschichten. Als ihre geliebte Großtante beim Sturz vom Rennpferd ums Leben kam, verarbeiten sie ihre Trauer mit der Fertigstellung eines des herzzereißensten Liebesromane aller Zeiten, der zum Bestseller avanciert und sie aus dem Paragraphenleben ausbrechen lässt. Da sie keine Großtanten mehr haben, die von Rennpferden fallen können, fehlt ihnen die Inspiration für einen neuen Bestseller. Daher arbeiten sie als Bedienung, um die Leute bei ihren Unterhaltungen zu belauschen und so neuen Stoff für ihr Buch zu sammeln.«
Der Kellner ließ seine Augen rollen und antwortete kurz: »Sagen sie mir einfach Bescheid, wenn ich ihnen noch etwas bringen kann.« und widmete sich schließlich einem anderen Tisch. Es fiel beiden schwer ihre Freude zu verbergen und so ließen darauf einige Momente wortlos vergehen. Schwungvoll streicht das Holz über die kleine Pappschachtel. Ein Funkenschlag bringt den Tabakstängel zwischen ihren Lippen zum Glimmen. Noch bevor sich ihre Lungen in Nebel hüllen können, stahl er den Glimmstängel und hielt ihn vor ihre Nase. Er schaute zu dem Jugendlichen mit Mobiltelefon, welcher sich mittlerweile der redseligen Gesellschaft eines Mädchens erfreuen konnte. »Genau wie der bald meistgesuchteste Serienmörder dieses Kontinents, hat dieser Sargnagel nur den Tod im Sinn.« und ließ die Zigarette zerknittert in den Aschenbecher fallen. Sie schloss kurz ihre Augen, als sich ein Regentropfen auf ihrer Stirn bemerkbar machte. »Gleich regnet‘s. Ich mag den Regen« »Du magst einfach alles.« entgegnete er mit einem Grinsen. Ein Atemzug wanderte durch ihre Nase. »Ja, ich find‘s ganz famos, wenn‘s abends regnet und so nen frischer Geruch in der Luft liegt. Dann duftet‘s irgendwie so lebendig und oft ist alles anders danach. Nicht immer besser aber anders. Das mag ich am Regen.«
Nach einer Pause verlor ihr Mund das Lächeln, als sie ihn fragte: »Was willste eigentlich mit deinem Leben mal machen? Also, nach der ganzen Ausbildung. Was haste dann vor?« »Oh, haben wir nun den ernsten Teil des Abends erreicht?« erwiderte er schmunzelnd. »Das ist korrekt und ich will ne Antwort haben mein Freund.« Er überlegt kurz. »Nun gut, das Einzige, was ich bis jetzt einigermaßen weiß, ist, dass ich frei von ständigen Sorgen sein möchte. Ich will die Welt nicht nur sehen, sondern auch fühlen. Ich, ich möchte die Dinge um mich herum spüren und begreifen. Anders kann ich das nicht erklären. Falls es für dich irgendeinen Sinn ergeben hat, dann ist es das, was ich mal in meinem Leben erreichen will. Wenn du Lust hast, kannst du gerne mitkommen, gerade wenn es um das Greifen von gewissen Objekten geht, kann ich jemanden wie dich gut gebrauchen.« Für einen Augenblick verlor sich ihr Blick in seinen Augen, bis sie nach einem Räuspern antwortete: »Nun, ich hab mir da jetzt ne Weile den Kopf drüber zermartert und ich bin mir sicher, dass ich was verändern will. Es ekelt mich nur noch an, wie wir mit unsrer Umwelt wirtschaften. Deswegen will ich da weit mehr tun, als mir halb geschenkte Sonderaktionen zuzulegen, die im Hall hypnotisierender Hintergrundsmucke zusammengefaltet zwischen bunten Produkten liegt. Ich will auch nicht nur an irgendwelchen Spendenmarathons zur Weihnachtszeit nen Groschen zubuttern und dann meinen zufriedenen Arsch bequem in die Sitzkuhle rollen. Ich will nen bisschen mehr als das machen. Auch wenn man da kaum Schotter für kriegt, ist‘s mir das trotzdem wert. Natürlich will ich auch irgendwann mal ne Familie gründen und wies grad aussieht, biste da meine erste Wahl.« Der Mann hob erschrocken seinen Arm und flüsterte mit schmerzverzerrtem Gesicht unhörbar in die Menge: »Herr Ober, die Rechnung bitte!« Hastig drückte sie seinen Arm herunter und fügte hinzu: »Ich mein‘ auch noch nicht jetzt, später mal, wenn wir beide so weit sind« »Nun, das hört sich machbar an, damit kann ich gut leben.« Als brodelnde Wolken sich über der Stadt bemerkbar machten und pralle Wassertropfen sich immer zahlreicher für den Sprung ins Freie entschieden, suchten die Gäste die Obhut des Cafés. »Ich verwette meinen Knackpopo, dass ich hier länger sitzen kann als du!« gab sie ihm herausfordernd zu verstehen. »Was ist der Einsatz?« fragte er interessiert. Sie nahm sich etwas Zeit, ehe sie erwiderte: »Ich sag dir was, wenn du verlierst, darf ich den Namen aussuchen.« »Und was springt für mich dabei heraus?« »Nun, falls du gewinnst, dann kann die Telefonzelle dort drüben heute Nacht ne anrüchige Story zu ihrem Erlebnisschatz hinzufügen.« Prompt reichte ihr der Mann die Hand und sagte: „Wir haben eine rechtsgültige Wette.« Inmitten des hektischen Treibens saß das Paar teilnahmslos am einzig besetzten Tisch und lieferte sich ein Blickduell, als der Regen anfing, auf sie herabzufallen.
Sie schließt ihre Augen, als ein Windzug den Geruch der Wiese in ihre Atemwege trägt. Noch immer reibt der Mann mit einem Taschentuch auf seinem Anzug. »Hey komm, ist doch nur nen Fleck, ist doch nicht so tragisch.« sagte sie. »Es ist eben nicht nur ein Fleck, damit muss ich morgen auf Arbeit, was ich dank der Göre komplett vergessen kann.« erwidert er wutgeladen. Sie wendet sich ab und schaut dem Mädchen auf dem Rad hinterher, das am Ende des Hügels an zwei Frauen auf einer Parkbank vorbeifährt. Es ist dieser Augenblick, als ihr Blick verloren auf ihren silbernen Ring taumelt, der jenes Versprechen hält, das sie nun nicht mehr halten kann.

Unweit des Parkwegs, löst sich welkes Blattwerk von den Baumverästelungen und taumelt zu Boden. Dort trägt sie ein Luftzug über ungezählte Grashalme mit sich, bis er eine Parkbank erreicht, um dort unter das Sommerkleid einer Frau zu fegen und es leicht aufzuwölben. Als sie erschrocken mit ihrer Hand über das Textil streicht, verflüchtigt sich die Brise zurück ins vergilbte Laub. Die Frau sitzt auf der Bank ohne Rückenlehne und umklammert den matt schimmernden Bügel des Kinderwagens, dessen Bremshalterung die Räder im Griff halten. Gespalten fallen die Haarspitzen in ihren Blick, welcher auf dem Parkweg haften bleibt und sich erst wieder der Bekannten neben ihr widmet, als deren Redeschwulst energischer wird. »Oh und ich sage dir, die Verkäuferin hatte nun wirklich gar keine Ahnung, von was ich da sprach. Sie sah mich einfach nur dümmlich an, bis ich auf das Parfum zeigen musste. Kannst du dir das vorstellen? In den Laden werde ich erst mal nicht mehr gehen.« plätscherte es aus ihrem Mund. Erneut lässt die Frau ihre Augen auf den Weg sinken und beobachtet die vorbeiziehenden Spaziergänger, ehe sie die Stille ihrer Bekannten bemerkt. »Bitte?« erkundigt sie sich. »Ich fragte, ob du schon weißt, wohin ihr in den Urlaub fliegen werdet? Ach, lass dich überraschen, ich habe vor einiger Zeit mit deinem Mann darüber gesprochen und ich kann dir versprechen, es wird dir gefallen. Das Hotel ist wirklich toll und die Animateure sind richtig schnucklig. Da kannst du deinen Mann nach Strich und Faden verwöhnen, du siehst ihn ja dank der Arbeit eh viel zu selten. Aber so ist das halt, das hat ja auch seine Vorteile. Apropos, ich muss los Schätzchen, noch ein bisschen shoppen gehen und paar Kleinigkeiten für das Abendessen besorgen. Ach ja, bei dem Supermarkt im Zentrum läuft gerade eine Sonderaktion. Man spart Geld und rettet noch den Regenwald oder so. Naja egal, wir sehen uns ja am Wochenende, bis dann!« Ein Lächeln zwängt sich in ihr Gesicht, als sich die Bekannte mit dick aufgetragenen Küsschen verabschiedet und einen aufdringlichen Geruch zurücklässt.
Nur kurz schaut sie ihren Schritten hinterher, ehe sie auf der Wiese einen Hund erspäht, der sich so lange im Gras wälzt, bis ihn der Besitzer mit gestraffter Kette weiterzerrt. Immer flacher wird der Atem, der aus ihrem Mund strömt. Sie blickt auf den leeren Platz der Parkbank, deren Holzbalken sich vor ihr in die Ferne ziehen. Der Schlag ihres Herzes beginnt zu rasen. Über ihr schießen die Wolken unentwegt am Himmel entlang. Schweiß perlt von ihrer Haut. Das Baby fängt an zu schreien. Ein Pfeifen bricht in ihrem Ohr aus. Die Umrisse der Spaziergänger hetzen vorbei. Ihr Blick schwankt zu Boden, der unter ihr wegbricht. Erst einige geschlossene Augenblicke später, als ihre Tochter zur Ruhe kommt, legt sich das Zittern ihrer Hände. Kurz darauf steigen Tränen in ihre Augen und mit ihnen, Erinnerungen an jenen Tag, als sie ihre Sachen in einen Karton packte.
Durch das Fenster zwängte sich die aufgestaute Hitze der Wohnung ins Freie, während der Schatten der Jalousie sich über die sonnengeflutete Wand des Schlafzimmers legte. Immerzu fiel die Tür des Kleiderschrankes zu, als sie ihre Kleider herausnahm und diese auf dem Bett verteilte. Ab und an wiederholte sie einige Sätze vor ihrem Spiegelbild und hinterließ sie auf einem Zettel. Als sie den Karton abschließend mit Klebeband versiegeln wollte, stolperte ihr Blick auf das Foto, welches auf dem Nachttisch ragte. Lange verweilte sie auf dem staubüberdeckten Überbleibsel ihrer Beziehung, ehe sie sich ruckartig krümmte und die Hand vor den Mund hielt. Sie ließ das Bild fallen und rannte ins Bad, von deren Tür daraufhin Würgegeräusche hörbar wurden.
Knarzend öffnete sie die Badtür und wankte in den Flur. Nur flüchtig sah sie ins Schlafzimmer, wo mittlerweile das Licht der Straßenlampe hineinstrahlte und sich eine lebhafte Brise an der Jalousie vorbeidrängelte. Sie fasste sich an die Stirn und brachte ihre Haare zum Schaukeln, als sie ihren Kopf schüttelte. Noch einmal betrachtete sie den Gegenstand in ihrer Hand. In diesen Moment platzte ihr Verlobter durch die Wohnungstür und umarmte sie. »Du glaubst nicht, was heute passiert ist.« sagte er mit einem Grinsen. Noch bevor sie ein Wort erwidern konnte, fuhr er fort. »Ich habe dir doch von dem wichtigen Kunden erzählt. Stell dir vor, der will mir den Auftrag geben und wenn das alles klappt, dann bekomme ich die Beförderung. Wir müssen nur dieses Wochenende mit ihm und seiner Frau essen gehen. Ich habe es einfach gewusst, dass es sich auszahlen, wird da dran zu bleiben. Endlich geht es aufwärts. Dann können wir auch aus dieser Wohnung raus, das ist der Beginn von etwas Neuem. Das ist doch großartig oder?« Da ihre Antwort ausblieb, löste er ihre Umarmung und wich einen Schritt zurück. »Was ist los?« Sie zuckte kurz mit den Schultern. »Ich bin schwanger.« »Bitte was?« erwiderte er lauthals. »Ich hab‘s auch erst seit heut‘ morgen rausgefunden.« »Du kannst doch jetzt nicht schwanger sein. Wie konnte das denn passieren?« »Ähm, ich glaub‘ du warst da auch mit von der Partie.« Er kratzte sich am Kopf. »Du bist schwanger?« erkundigte er sich nochmals mit ungläubiger Miene. »Jab.« »Bist du dir sicher?« Sie öffnete ihre Faust und zeigte ihm den Schwangerschaftstest. »Hier guck, da hastes rot auf weiß.« »Du bist schwanger!« krakelte er nach einem Moment. Mit gespanntem Ausdruck beobachtete sie, wie er auf und ab schritt und schließlich meinte: «Das kriegen wir hin.« Er übersäte ihr Gesicht mit Küssen, bis ein Lächeln heranwuchs. »Das ist prima, das schaffen wir, das kriegen wir hin.« wiederholte er immerzu und umarmte sie. »Was ist mit dem Karton dort?« fragte er, als sein Blick ins Schlafzimmer wanderte. »Ach, ich hab‘ den ganzen alten Kram rausgeworfen. Wir brauchen ja jetzt Platz für was Neues.« Sie strich mit ihren Fingerspitzen über seinen Rücken und sagte anschließend: »Ich kann ja dank der Wette sogar den Namen wählen.« Sein Lächeln zerbrach daraufhin am Fensterglas, hinter der das Licht der Großstadt pulsierte.
»Tschuldigung junge Dame, is‘ hier noch frei?« erkundigt sich ein Mann und zeigt auf die Parkbank. Als sie ihm noch abwesend zunickt, setzt er sich zu ihr. »Was für ein dufter Tag heute is‘, ich könnt‘ Stunden hier hocken und einfach nur den Leuten zuschauen, ohne dass was passiert, nur die Sonne genießen und alles andre mal sein lassen.« Sie wischt ihre Traurigkeit aus den Augen und schaut kurz mit erstauntem Blick zu dem Mann, der mit einem verschmitzten Grinsen auf den Teich blickte. »Die Luft is‘ hier auch anders, ich finde, jeder müsste dazu verpflichtet werden, mindestens einmal in der Woche hier herzukommen. Damit würden auch die nörgelnden Säcke in der Stadt verschwinden.« Ein Lächeln blüht in ihrem Gesicht auf. »Es ist lange her, dass ich das jemanden sagen gehört habe.« »Wirklich? Dann sollte ich vielleicht mal öfters vorbeikommen.« Sie streicht sich durch ihre Haare und beobachtet, wie das Mädchen auf dem Rad mit schlackernden Armen auf dem Gehweg an einem Baum vorbei eilt an dem sich ein Mann anlehnt, ehe sie erwidert: »Ja, vielleicht solltest du das.«

Eine Böe zieht über den Teich und verdrängt mehrere Staubkörner von dem Parkweg, über den die Spaziergänger wieder zurück in die Stadt finden. Wenige zertretene Grashalme weiter, sitzt ein Mann an einen korpulenten Baum gelehnt, dessen Wurzelstock stellenweise aus dem Boden ragt. In seinem Schatten lässt eine kleine Gänseblumengruppe unter der Last des Sakkos die Köpfe hängen. Die Ränder unterhalb seiner Augen ziehen einsame Runden. Sonnenstrahlen verfangen sich in seinen Haaren und selbst graue Härchen, die sich sonst hinter ihren jüngeren Artgenossen verstecken, baden sich im weichen Schein des müde gewordenen Sommers. Der Windsor Knoten hat seinen Würgegriff gelockert und die über die Schulter geworfene Krawatte flattert im Wind, wie die Zunge eines Labradors, der bei einem Sommerausflug den Kopf aus dem Fenster streckt. Bis zu den Knöcheln ist seine Hose umgekrempelt, während sich die Schuhe mitsamt den Socken über der Wiese verstreut haben. Eingebettet in kitzelnden Grashalmen massieren seine Fußzehen die Erde. Der Kopf ruht auf der zerfurchten Rinde und seine Atemzüge tragen jene Leichtigkeit in die Nase, die um ihn herum durch den Park treibt. Mit seinen Augen wandert er über das Gras und bleibt bei einem jungen Paar hängen, das sich neben dem Teich niedergelassen hatte. Mit einem Stift kritzelt er einige Worte auf ein Stück Papier, mit dem er gleich darauf eine aufdringliche Biene verjagt. Ein Klingelton löst seinen Blick und er zieht ein Mobiltelefon aus seiner Tasche. Er betrachtet das verpixelte Foto, das aufgeregt auf dem Bildschirm flackert und streicht mit seinem Daumen über das Bild eines lachenden Mädchens. Verschwommen erinnert er sich an den Abend, als ihn der Portier wie gehabt mit falschem Namen in der Lobby begrüßte.
Fresken verzierte Wände zogen an ihm vorbei, als er die Marmortreppen ins oberste Stockwerk emporstieg. Das Namensschild warf die verzerrte Spiegelung seines Gesichts in den Flur, während er mit schroffen Handbewegungen versuchte, den Schlüssel in das Schloss zu drängen. Mit einem kräftigen Ruck gewährte ihm die Tür schließlich Einlass und in der Wohnung streifte er seinen mit Nadelstreifen übersäten Anzug ab, der kurz darauf am Kleiderständer baumelte. Er passierte die Küche, in der leere Verpackungen von Tiefkühlkost auf dem Tisch herumlungerten, sowie verschmutztes Geschirr sich im Waschbecken auftürmte. Mit dem Kopf lugte er anschließend ins Kinderzimmer und betrachtete mit einem Lächeln die schemenhaften Umrisse seiner Tochter, die bereits auf dem Bett eingeschlafen war. Auf dem Fußboden erspähte er Bilderbücher, Spielzeugpuppen und Ballerina Schuhe, die verstreut in dem Lichtkegel der offenen Tür lagen. Er schloss ihre Tür und schlenderte ins Wohnzimmer.
Durch den angelehnten Spalt des Fensters dröhnte dort in hektischer Gewohnheit der Großstadtlärm in den Raum. Seine Frau saß an dem Glastisch mit einem gefüllten Aschenbecher und einigen Zigarettenschachteln. Er setzt sich zu ihr gegenüber und suchte ihren Blick, der jedoch abwesend an der Fensterscheibe verweilte, die der Nieselregen mit feinen Tropfen benetzte. Wortlos verstrichen die Momente, bis er schließlich fragte: »Wie war dein Tag?« Noch immer wendete sie ihren Kopf in die andere Richtung, bis sie nach einer Pause kurz mit den Schultern zuckte. »Wie immer halt.« Erneut füllten sich die Augenblicke mit Stille, bevor sie mit desinteressierter Tonlage hinzufügt: »Und, wie war dein Arbeitstag?« »Das Übliche, wir hatten viel Ärger mit der Datenbank und noch Probleme mit den Klienten.« Er hielt einige Zeit inne und ließ seine Augen nervös über den Tisch springen. »Hör zu, wir haben diesen Auftrag bekommen, und da die Zeit knapp wird, muss ich noch ein paar Extraschichten einlegen. Das heißt, dass ich dieses Wochenende wieder arbeiten muss und nicht mit zum Auftritt kann. Nächste Woche habe ich mir einen Tag freigehalten und da können wir in den Park gehen, wenn du magst.« Das entzündete Feuer brannte sich rasch ins Papier und ließ den Tabak ihrer Zigarette knisternd aufglühen. Mit abgewandtem Blick schüttelte sie den Kopf und entgegnete: »Das ist nicht das, was ich wollte.« »Wenn du lieber ins Schwimmbad gehen möchtest, dann können wir auch dahin.« »Das mein‘ ich nicht. “Verwirrt betrachtete er sie und fragte: »Und was genau meinst du denn?« »Das hier, das Ganze hier, ist nicht das, was ich wollte. Deine beschissne Arbeit ist dir wichtiger als deine eigene Familie. Du bist so oft dort, dass wir dich fast nur an Wochenenden bewundern können, wenn überhaupt. Du verbringst einfach nicht genug Zeit mit uns.« erwiderte sie ihm mit, als sie ihn mit ihrem Blick konfrontierte. »Mit dieser beschissenen Arbeit bezahle ich immerhin unsere Rechnungen und diese Wohnung hier. Ich reiß mir Tag für Tag meinen Arsch auf, damit wir ein besseres Leben haben können und etwas Unabhängigkeit von den ganzen Sorgen. Denkst du das mache ich für mich? Glaubst du, dass das mir Spaß macht? Das mache ich nicht für mich, sondern für euch.« sagte er entschlossen. »Ja ich weiß, dass du das alles für uns machst, aber das reicht nicht. Mir isses scheißegal, wo wir wohnen oder wohin wir im Kurzurlaub fliegen. Ich brauche keine rotzige Bonzenwohnung, um glücklich zu sein. Was ich brauche, ist jemand der für meine Tochter und mich da ist. Gerade sie braucht dich. Sie braucht ihren Vater so sehr und es bricht mir jedes Mal aufs Neue das Herz, wenn ich ihr erzählen muss, dass ihr Vater null Zeit für sie hat, weil er arbeitet. Ich bin es, die ihr klar machen muss, dass ihr Papa sie noch lieb hat, obwohl er es noch nicht einmal zu ihren verdammten Auftritten gepackt hat. Sie hat weit mehr als das verdient. Du bist nicht hier, wenn es drauf ankommt. Du bist einfach nie hier.«
Mit einem Zug drängte sich der aufgestaute Zigarettenrauch zwischen ihren schmalen Lippen ins Zimmer, bis sie mit wütender Stimme fortfuhr. »Weißte, ich hab‘ schon lange diese Zweifel mit mir rumgeschleppt aber doch irgendwie noch gehofft, dass sich was mit ihrer Geburt ändern wird, doch stattdessen wurde alles nur noch schlimmer. Du bist vor all dem weggerannt, weil du Schiss hattest« »Bitte? Vor was, vor was hatte ich denn Schiss?« entgegnete er barsch und lehnte sich mit verschränkten Armen in den Stuhl zurück. »Du hattest Angst, dass du deine Ziele nicht auf die Reihe kriegst und wir dich dran hindern würden. Aber ich hab‘ meine Träume auch zurückgestellt, weil ich dachte, dass wir das zusammen schaffen und irgendetwas Neues bauen. Meinste, dass mir das leicht gefallen ist? Mich kotzt es an, jeden Tag hier rumzuhängen und mit dir abends nur verdreckten Smalltalk zu machen, bis de dich ins Bett verdrückst. Das ist unfair. Wieso musste ich so vieles aufgeben, wenn du keinen müden Schritt in meine Richtung kommst. Es widert mich einfach an und wie es jetzt ist, geht‘s keinesfalls mehr weiter mit uns.« Einen Moment lang beobachtete er wortlos, wie sie die mittlerweile verstümmelte Zigarette im Aschenbecher zerdrückte. Zwischen ihnen war nichts weiter, als das Schweigen und trübe Rauchschwaden, die durch das schale Licht der Deckenlampe trieben.
Nach einer Weile sagte sie mit einer beruhigten Tonlage: »Ich merk‘ doch, dass du auch unglücklich bist. Jeden Abend bleibste einige Minuten im Auto sitzen, bis du in die Wohnung kommst. Diese ganze Situation ist doch für uns beide nicht okay.« Er streckte seine Hand zu ihr aus und streichelte mit dem Daumen über den Ring. »Es tut mir leid, das wusste ich nicht. Alles was ich wollte, war, dass es uns allen gut geht. Das wir uns keine Sorgen um irgendwas machen müssen. Lass uns nochmal von vorne anfangen, ich werde versuchen weniger zu arbeiten und mehr Zeit mit euch zu verbringen.« Sie zog ihre Hand zurück und erwiderte leise: »Das geht nicht mehr.« Nur kurz betrachtet er seine Hand auf dem Tisch, bis er sie fragend fixiert. »Was meinst du damit?« Sie wendete ihren Blick ab und beobachtete, wie die mittlerweile zahllosen Regentropfen an der Fensterscheibe zerplatzten und glitzernd das Licht der Stadt widerspiegelten. »Was meinst du damit?« »Ich habe jemanden kennengelernt.« antwortete sie zögerlich. »Was?« fragte er entsetzt. Hastig wischte sie sich eine Träne aus ihrem ausdrucksleerem Gesicht und wiederholte stockend: »Ich habe seit einiger Zeit jemanden kennengelernt, einen anderen Mann.« Sein Mund öffnete sich leicht und nur langsam lösten sich die Lippen voneinander. »Ich fühl‘ mich nicht mal schuldig, nur musste es irgendwann mal so kommen, es war falsch diesen Weg zu gehen. Bitte versuch‘ das zu verstehn, ich bereue keins der Jahre, die ich bei dir war, nicht eins davon. Ich hab‘ dich geliebt, seit ich nen kleines Mädchen war und das wird sich auch nie ändern, nur muss ich mit dem Ganzen hier aufhören. Ich muss wieder so leben, dass es mir gut tut, genau wie du und ich hoffe dass du das irgendwann mal kannst. Es tut mir leid für unsre Tochter. Wir können ihr das nicht mehr antun. Du warst nie hier, du bist einfach nie hier.« sagte sie im klaren Tonfall. Unentwegt versucht er in ihr Gesicht zu sehen, doch die wogende Bestürzung ringt seinen Blick immerzu nieder. Tränen stiegen in seine Augen, während seine Stimme wankend nach Worten suchte. »Ich kann nicht bleiben.« entwich es schließlich zerbrochen aus seinem Mund. Er schiebt den Stuhl zurück und lässt die Wohnungstür ins Schloss fallen, die sich kurz darauf wieder einen Spalt öffnet.
Stetig drängelt sich der lauter werdende Klingelton zurück in sein Bewusstsein und noch einmal streicht er mit seinem Daumen über den Bildschirm, bevor er das Gerät verstummen lässt. »Papa?« ertönt es aus dem Hörer und lässt lachender Falten um seine Augen aufblühen. »Hey, meine kleine Tanzfee.« sagt er, während er sich mit einem Seufzer aufrichtet und dem im Gras liegenden Sakko den Rücken kehrt. »Oh, verzeih mir, natürlich bist Du schon lange nicht mehr klein.« erwidert er schelmisch ins Telefon und fügt hinzu: »Ich bin bereits auf dem Weg, in ein paar Minuten werde ich da sein.« Nach einer Pause antwortet er ihr: »Ja, diesmal bleibe ich.« und spaziert mit seiner Tochter am Ohr barfuß über das Gras Richtung Stadt. Mit einem Lächeln betrachtet er, wie das Mädchen auf dem Rad an ihm vorbei zieht und kurz danach einen älteren Mann auf einer Parkbank passiert.

Müde schleppt der Abendwind die weichenden Sommertage über vergilbtes Gras auf eine schattenspendende Baumkrone. Nur unweit entfernt sitzt ein alter Mann gekrümmt auf einer Parkbank. Seine gestutzten Haare tragen, wie das Hemd, die Farbe längst vergangener Tag. Vernachlässigte Bartstoppeln säumen sich auf sein mit Falten überzogenes Gesicht. Die rostigen Zahnräder seiner Armbanduhr drehen sich nur noch mühsam und verfälschen die Zeit auf dem Ziffernblatt. Alles, was er noch hat, sind die auf Papier entwickelten Erinnerungen, welche er zusammengefaltet in seiner Hosentasche trägt. Sein Gehstock ist von der Bank ins Blätterdickicht unter der Bank gefallen. Sein Holz ist mit zahlreich bunten Plaketten verziert. Beide Hände ruhen auf dem Schoß, eine Hand umklammert die andere, während sein Daumen über das Gold des Ringfingers streicht. Starr haftet sein Blick auf dem schattenüberzogenen Parkweg, den vereinzelte Sonnenstrahlen durchlöchern. Hin und wieder murmelt er leise Worte, die jedoch ungehört in dem Treiben des Parks verwirken. Er löst seine verblassten Augen nur dann vom Boden, wenn die flüchtigen Silhouetten der Spaziergänger auf dem staubigen Pfad an ihm vorbeiziehen. Sein Kopf drückt den Blick erneut zu Boden und füllt sein Bewusstsein mit Erinnerungen an jenen Tag, als der Gehstock seine gebrechlichen Schritte durch den Krankenhauskorridor trugen.
Ein Mann mit weißer Kutte begrüßte ihn und erkundigte sich nach seinem Befinden, welches er mit einem mürrischen Raunen erwiderte und weiter dem Gang folgte. Mit einem Büschel Grashalmen betrat er das Krankenzimmer, in dem nur einige Betten belegt waren. Der Geruch desinfizierter Vergänglichkeit kroch prompt in seine Nase. Seine Begrüßung wurde nur von dem erschöpften Lächeln seiner Frau beantwortet, die am Fenster lag, hinter dessen Glas sich der feuchte Beton türmte. »Ich habe dir was aus dem Park mitgebracht« sagte er und reichte ihr ein Stück grünen Wiese, von der noch etwas Regen perlte. Als sie mit ihren Fingern und Nase durch das Gras strich, betrachtete er sorgenvoll, wie das medizinische Gerät Flüssigkeit durch Schläuche in ihren Körper tropfen ließ. Ihre zitternde Hand legte das Bündel auf den Tisch, wo bereits ein aufgeschlagenes Buch mit ihrem Familiennamen, eine aschenbecherdicke Brille, sowie mit Holz umrahmte Schnappschüsse einer jungen Familie lagen. Er setzte sich zu ihr, zupfte die Bettdecke zurecht und fuhr mit seinen Fingerkuppen durch ihre vergreisten Haare. Erst jetzt bemerkte er die Spielzeugpuppe neben dem Bett. »Die Beiden warn heute Morgen kurz mit den Zwillingen da.« kam sie seiner Frage zuvor. »Sie könnte dich ruhig öfters besuchen kommen. So weit ist das nun wirklich nicht für sie.« Sie pochte einige Male mit ihrer Hand auf seinen Handrücken und erwiderte: »Mutter zu sein nimmt ne Menge Zeit in Anspruch.« Er nickte kurz und ließ seinen Kopf etwas sinken, worauf sie seine Hand umgriff. »Sie machten einen zufriedenen Eindruck. Der Klene ist richtig schüchtern und versteckte sich ständig hinter dem Rockzipfel unserer Tochter. Ganz anders als seine Schwester, die überhaupt nicht aufn Mund gefallen ist. Die Klene ist voller Energie und erinnert mich ein bisschen an dich.« Ein Lächeln breitete sich auf seinen Falten aus. »Bist du glücklich?« fragte sie ihn schwach. »Die verdammten Treppen treiben mich zur Verzweiflung, genau wie der Nachbar, der mir jeden Abend bei seinem Liebesspiel den Putz ins Wohnzimmer purzeln lässt. Der hat immer eine Andere. Ich könnte wetten, dass der ist ein gewiefter Auftragsmörder ist, der seine Opfer mit der Aussicht auf ein sexuelles Abenteuer in seine Wohnung lockt und ihnen dann stattdessen einen finalen Coitus interruptus schenkt. Ich befürchte, dass er mir auf die Schliche gekommen ist und mich eines Tages mit der Unterwäsche eines seiner Verblichenen zur Strecke bringen wird.« »Du und deine Geschichten.« entgegnete sie mit einem Grinsen. »Natürlich vermisse ich auch dein ohrenbetäubtes Schnarchen nachts neben mir.« fügte er hinzu. »Dieses Schnarchen hat schon die Hälfte der Leute hier aus dem Zimmer vertrieben.« antwortete sie, was beide zum Schmunzeln brachte.
Es ist jener Moment, in dem sich ihre Blicke begegneten und wortlos hin und zurück geworfen wurden. Wenige Augenschläge verstrichen, bis er sie schließlich anlächelte. Erschöpft erwiderte sie das Lächeln, das ein ausgebrochener Husten zerbrechen ließ und ihr Gesicht vor Schmerz entstellte. Das Metallgestell des Krankenbettes erzitterte, als ihr ganzer Körper von ruckartigen Wellen durchzogen wurde. Verzweifelt schaute er in ihre hilfesuchenden Augen, während er ihre zuckende Hand umklammerte. Mit flehender Stimme wiederholte er: »Ich bin hier, ich bin hier!« Immer wieder bäumte sie sich leicht auf und ihre Augen verdrehten sich vor Qualen, um letztlich an der Zimmerdecke verharren zu bleiben. Das keuchende Stöhnen wurde stetig leiser, ehe ihr Körper nach gab und sich schlaff auf das Bett senkte. Nur wenige Atemzüge entwichen ihr noch, bis ihr aus dem Leben entrückter Blick das Zimmer mit Stille füllte. Als die Krankenschwestern in den Raum eilten und das Bett mit einem Vorhang den anderen abtrennten, blieb er über ihr gebeugt sitzen und hielt die Hand seiner atemlosen Frau umklammert. Dabei strich er mit seinem Daumen über ihren goldenen Ehering und flüsterte: »Ich bin hier, ich bin hier.«
Seine Augen öffnen sich und schauen kurz auf, als das Mädchen mit dem Rad klappernd über welkes Laub auf den staubigen Parkweg biegt und an ihm vorüberzieht. Er blickt ihr einige Zeit hinterher, bis er sie nicht mehr ausmachen kann und sein Blick wieder zu Boden fällt.
Das Sonnenlicht erlischt hinter den Häusern in der Ferne und mit ihm der Gesang der Vögel. Die Lichter der Stadt mitsamt dem stumpfen Lärms überziehen nun den Park, den die Menschen nach und nach verlassen, um ihn schon am Morgen mit neuem Leben zu füllen.