Sonntag, 23. September 2012

Jahreszeiten


Heiß brennt der Faden der Glühbirne und flutet die Enge des Korridors mit grellem Licht. An der Wand steht eine von Einkerbungen überzogene Kommode, deren Farbe abperlt und sämtliche Schubladengriffe abhandengekommen sind. In der Ecke hängt eine Jacke über einem Kleiderständer, der mit Rissen übersät schief an der Wand lehnt. In seinem Schatten verweilt ein Farbeimer, auf dem ausgefranste Pinsel liegen und unter denen längst vertrocknete Farbreste den Boden überziehen. Aus der Küche dringt das leise und stetige Ticken einer Uhr.
Knarzend öffnet sich die Wohnzimmertür, durch die ein Mann in den Korridor trottet und seine Fingerspitzen über die raue Fasertapete entlanggleiten lässt, ehe er vor der Kommode stehen bleibt.
»Oh Gott, was ist das denn?« fragt er und richtet seinen Blick zu einer Frau in einem schwarz-weiß gepunkteten Kleid, die sich an den Türrahmen des Wohnzimmers lehnt.
»Ne Kommode, ne ganz normale Kommode, vielleicht kennst Du so etwas. Da kann man, ganz innovativ, Dinge verstauen« erwidert sie mit einer belehrenden Handbewegung.
»So heruntergekommen, wie sie aussieht, war sie das vor vielen Jahren eventuell einmal« entgegnet er, wischt mit dem Zeigefinger über die Staubschicht und hält ihr die Ansammlung mit gespielter Empörung entgegen. 
»Ja, ich weiß, die Putzfrau kommt erst morgen« antwortet sie gleichgültig.
»Das hoffe ich. Vielleicht kann sie Dir dazu noch eine neue Kommode mitbringen. Ein Wunder, dass das Ding nicht auseinanderfällt.«
»Dein Lästermaul bleibt zu! Schließlich ist das gute Stück so alt wie ich und hat schon einiges mitgemacht.« 
»So alt also? Kommst Du denn mit der Rente über die Runden?« fragt er schmunzelnd, während sich dabei schelmische Falten um seine Augen zeichnen.
»Das sagt genau der Richtige« erwidert sie und schaut zu ihm, als sie mit dem Finger auf ihre Stirn zeigt.
Er streicht sich verlegen über seine Geheimratsecken und versucht vergeblich eine Schublade zum Öffnen zu bewegen.
»Ist da überhaupt noch etwas drinnen?« fragt er mit angestrengter Stimme.
»Die meisten Schubladen sind leer. In den anderen ist nur alter Krempel, der sich mit der Zeit angehäuft hat.«
»Alter Krempel? Da ist mit Sicherheit auch das ein oder andere Schmuckstück dabei.«
»Das glaub‘ ich eher nicht.«
»Egal, dennoch musst Du ihn mir irgendwann einmal zeigen.«
»Ja, irgendwann mal bestimmt.«
Ungeschickt wirft er ihr ein Lächeln entgegen, in dessen Erwiderung sich Fältchen um ihren Mund herum versammeln und die Staubkörner inmitten des warmen Scheins der Glühbirne vorbeischweben.
Sein Blick schweift zur Wand, an der zwei Notizzettel hängen, die mit einer Nadel befestigt sind. Er nimmt sie ab und betrachtet die Zeichnung darauf.
»Das ist die letzte Blume, die ich diesen Sommer sah« sagt sie nach einigen Augenblicken. »Sie war einfach da, zwischen all dem gemähten Gras, war sie einfach da und ich dachte mir, dass ich sie unbedingt mitnehmen muss.« Nur kurz lässt sie ihn aus den Augen, als sie zu den Blättern an der Wand schaut. »Zum Glück hatte ich einen Bleistift und einen von der Arbeit geklauten Notizblock mit dabei und konnte sie wegbringen. Deswegen ist sie jetzt hier.«
»Wunderschön« erwidert er und betrachtet sie mit dem gleichen Lächeln auf den Lippen, ehe er die Notizzettel wieder an die Wand heftet.
Als er sich zu dem Kleiderständer dreht und dort nur eine Jacke erspäht, fragt er mit seichter Unsicherheit in der Stimme: »Wo zur Hölle ist mein Mantel?«
»Er müsste noch drüben sein, warte ich bring‘ ihn Dir« sagt sie und geht zurück ins Wohnzimmer.
Er blickt erneut zu der mit Bleistift geformten Blume auf den Zetteln und folgt ihrer Kontur mit den Spitzen seiner Finger, bis sich die Nadel löst. Die vergilbten Blätter taumeln zu Boden und verschwinden zwischen den dicken Holzfüßen unter der Kommode. Er bückt sich und seine Hände tasten sich durch die Dunkelheit.
»Auch wenn Du drauf stehst Dich hinzuknien, lass mal. Das passt schon, die fallen immer runter. Das ist nicht so schlimm, ich weiß ja, wo sie sind und irgendwann werden sie wieder auftauchen. Spätestens, wenn die Putzfrau kommt« sagt sie und lehnt sich mit seinem Mantel erneut an den Türrahmen.
»Na gut« erwidert er und erhebt sich mit einem Seufzer.
Einige Augenblicke verstreichen, als er wortlos auf den Mantel starrt, ehe er ihn schließlich nimmt und die Knöpfe träge in die Knopflöcher zwängt.
»Oh Gott, was ist das denn?« fragt er abermals, als er sich abwendet und den Kleiderschrank beäugt.
»Ist jetzt jedes Möbelstück dran?« entgegnet sie.
»Ja schau ihn Dir doch einmal an. Wie kann das Ding überhaupt noch stehen? Ihm fehlen ja überall die Stützen. Ein Wunder, dass er die Jacke tragen kann.«
»Er wurde geleimt, und solange er noch hält, bleibt er halt hier, Punkt.«
»Eine Auffangstelle für ramponierte Möbel. Wie nobel Du doch bist.«
Als er über die mit Leim versiegelten Sprünge des Holzes fährt, löst sich ihre Jacke von der Halterung, fällt zu Boden und hinterlässt einen kahl gewordenen Kleiderständer.
»Klar mach nur! Das ist die Einzige, die ich habe. Warum spuckst und trittst Du nicht darauf herum oder suhlst Dich alternativ mit ihr im Schlamm?« plärrt sie ihm entgegen.
Er schaut kurz auf die Jacke und murmelt: »Das kann ihr nur zugutekommen«.
Empört reißt sie den Mund auf.
»Willst Du damit etwa sagen, dass meine einzige Jacke hässlich ist?«
»Nein, nein, dafür wäre ich viel zu höflich.«
»Basterd!« ruft sie ihm entgegen, was er mit einem Schmunzeln und Nicken zur Kenntnis nimmt.
Er klopft die Jacke ab, legt sie auf die Kommode und sagt zögerlich: »Ich gehe jetzt«, während sein Finger im Staub rührt.
Sie blickt zu ihm, lehnt ihren Kopf gegen den Türrahmen und öffnet leicht den Mund, ohne jedoch etwas zu erwidern. Als er sich zur Seite dreht, rinnen die Staubkörner durch seine Hände und rieseln zu Boden, genau wie sein Blick, der sich auf den weißen Fußabdruck neben den zahlreichen Farbflecken legt.
Schließlich öffnet er die Wohnungstür und die Leere mitsamt ihrer Kälte schwemmt ihm entgegen. Er presst einen Atemzug aus seiner Lunge, der in das dunkle Treppenhaus treibt und sich dort endgültig verflüchtigt. Fest umklammert er den Türknauf und starrt ins Leere, in dessen Schwärze die Konturen des Geländers stetig deutlicher werden.
»Weißt Du was?« fragt sie und durchbricht die Stille.
Er verharrt weiter an der Tür und antwortet: »Nicht viel aber sicherlich, wie man eine Verabschiedung in die Länge zieht«.
»Und ich weiß, wie man guten Tee macht. Wie es der Zufall so will, ist mir gerade eingefallen, dass ich im Chaos meiner Küche noch Blütentee habe. Wenn Du willst, können wir den trinken.«
Jetzt dreht er sich um und schaut sie an. In der Enge des Korridors, im grellen Licht der Glühbirne und der Dunkelheit des Treppenhauses dahinter, steht er da und schaut sie an.
Er räuspert sich und fragt: »Hast Du denn überhaupt Tassen dafür?«
Sie lächelt und erwidert: »Nicht alle aber einige sind noch in meinem Schrank.« Kurz runzelt sie die Stirn. »Und mit diesem schlechten Witz verabschiede ich mich in die Küche.«
Die Wohnungstür fällt ins Schloss. Er knöpft seinen Mantel auf und hängt ihre Jacke auf den Kleiderständer, der unter der Last wieder in Schräglage gerät und erst das Gleichgewicht wiedererlangt, als er seinen Mantel auf der anderen Seite der Halterung legt. Mit einem Schmunzeln betrachtet er das üppige Gewand, streicht über den Leim und den darunter eingeschlossenen Risse, ehe er um die Ecke in die Küche lugt.
»Oh Gott, was ist das denn für ein Schrank?«
»Es reicht!« entgegnet sie ihm.
Mit seiner Hand fährt er über die Kurven der Kommode und der aufgeplatzten Farbe. Er bückt sich und kramt nach einigen Handgriffen die Notizzettel der Sommerblume hervor und befestigt sie an der Wand.
Der Duft des Blütentees breitet sich mit dem heißen Dampf im Korridor aus.
»Das riecht aber wunderbar« sagt er, als er über seine Schulter schaut.
»Ich hab‘s schließlich auch gekocht« antwortet sie und geht an ihm vorbei.
Er bläst den Staub von der Kommode und wischt die restlichen Hinterlassenschaften von dem Holz, ehe er mit einem Knarzen die Tür zum Wohnzimmer hinter sich schließt.

Inspiriert durCh: Weheartit

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