Freitag, 11. Mai 2012

Ein Tag, dreimal Herbst

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Zögerlich verweilt sie vor der Tür. Ihre Hand zittert wie ein welk gewordenes Blatt im eisigen Herbstwind, ehe sie einen Atemzug zwischen ihren Lippen hinausdrängt und still die Staubkörner betrachtet, welche im Schein der Morgensonne aufgeregt durch die Luft kreisen. Sie klopft kurz an und betritt schließlich vorsichtig das Zimmer. Die Wände sind mit bunten Handabdrücken, Stickern und Zeichnungen verziert, während allerlei Spielzeug den Fußboden säumt. Inmitten des Durcheinanders sitzt ein kleiner Junge, der mit der Zusammenstellung einer Armee aus Kuscheltieren beschäftigt ist und gerade einen dreibeinigen Teddybären die Wichtigkeit seiner Aufgabe als befehlshabender Kapitän erklärt. Als sie die Tür hinter sich schließt, schaut der Junge auf und stürmt mit einem Aufschrei der Freude auf sie, um ihre Beine zu umklammern. »Mama, Mama. Da bist Du ja endlich. Ich habe schon den ganzen Tag auf Dich gewartet!« krakelt er, während seine Umklammerung ihr beinahe das Gleichgewicht nimmt. »Willst Du sehen, was ich heute gemalt habe?« Ohne überhaupt ihre Antwort abzuwarten, greift er ihre Hand und zieht sie zu seinem Tisch. Sie setzt sich auf den Stuhl und hebt ihren Sohn auf den Schoß, der ihr eine Zeichnung von einem Haus zeigt, vor dem sich drei Strichmännchen befinden. »Schau, da bin ich, Papi und Du!« Sie betrachtet mit einem Lächeln das Papier und deutet auf einen undeutlichen Fleck. »Was ist das denn?« »Das ist Polly!« »Wer ist denn Polly?« Er hält für einen Moment inne und blickt nach unten. »So nenne ich meinen Hund, Du weißt schon, den ich mir zu Weihnachten gewünscht habe!« Sie streicht ihm über die strubbeligen Haare und erwidert. »Mal schauen was der Weihnachtsmann dazu sagt.« Er lässt seinen Kopf nach hinten fallen und schaut sie mit seinen großen Augen an. »Gehen wir heute noch in den Park und sammeln Kastanien?« »Hast Du denn schon Deine Hausaufgaben gemacht?« fragt sie mit strengem Ton. »Alle, bis auf die blöden Matheaufgaben, die versteh‘ ich nich‘.« »Dann machen wir die zusammen.« »Aber zuerst gehen wir in den Park und sammeln Kastanien. Dann machen wir die blöden Hausaufgaben!« sagt er trotzig und springt von ihrem Schoss. »Wir machen sie jetzt schnell, dann hast Du es hinter Dir.« Er verschränkt seine Arme und schüttelt den Kopf. »Aber dann ist es dunkel und wir sehen nichts mehr!« Sie steht auf und geht zum Fenster. »Abgemacht Mama?« fragt er zögerlich. Kurz betrachtet sie die Plastiktiere auf der Fensterleiste, ehe sie das Spiegelbild ihres Sohnes in der Fensterscheibe sieht. »Mama?« ertönt es leise. Ein flüchtiger Wimpernschlag löst eine Träne, die langsam über ihre Wange läuft. Sie greift nach einem Plastiktier und streicht über dessen raue Oberfläche. »Mama?« hallt es kaum hörbar durch den Raum. Die Reflexion ihres Sohnes verblasst und legt die Sicht auf den blühenden Garten hinter der Scheibe frei. Mit ihren Fingerkuppen wischt sie sich die Träne aus ihrem Gesicht und fängt an das Spielzeug in Kartons zu verstauen.
Vor drei Jahren verlor sie ihren Sohn bei einem Unfall. Seit drei Jahren vermochte sie es nicht, die Erinnerungen in seinem Zimmer auch nur zu berühren. Drei Jahre trauerte sie und fand an diesem Tag die Kraft, weiterzugehen.

Yí rì sān qiū (一日三 秋) ist ein chinesisches Sprichwort. Es bedeutet "Ein Tag, dreimal Herbst" und drückt aus, jemanden so sehr zu vermissen, dass sich ein Tag wie drei Jahre anfühlen.

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