Dienstag, 18. Oktober 2011

Der Arzt

Vor nicht allzu langer Zeit ereignete es sich, dass ein Mann einen Einlauf aus einer Kamillen- und Waldbeerentee Mischung bekam. Das mag durchaus befremdlich wirken und dieses Gefühl wird mit Sicherheit auch nicht verflachen, wenn ich ihnen sage, dass der Mann diese Prozedur über sich ergehen ließ, weil er glaubte, dass es sich hierbei um eine Prostatauntersuchung handelte. Als Randnotiz muss hier natürlich erwähnt werden, dass der Arzt, der diese Behandlung durchführte und von denen ich ihnen nachfolgend erzählen werde, keinen blassen Schimmer von Medizin hatte. Er konnte daher auch nicht wissen, dass eine Prostata Untersuchung über die haptische Schiene vollzogen wird. Der Grund, warum unser ahnungsloser Arzt nicht die geringste Kenntnis von dieser Tatsache hatte, liegt darin verborgen, dass er bis zu diesem Tag niemals auf einer Universität war und das, obwohl er dort lange eingeschrieben war.


Doch fangen wir von vorne an. Als unser Protagonist vor einigen Jahren schreiend auf diese Welt geboren wurde, sah er nicht nur in das Licht der grellen Entbindungsstation, sondern auch in das Gesicht eines Arztes, nämlich das seines Vaters. Der war damals schon sehr erfolgreich in seinem Beruf und konnte mit unzähligen Ehrungen an der Wand und einer großräumigen Praxis in der Innenstadt auftrumpfen. Er war ein unnahbarer und strenger Mann, der das Oberhaupt der Familie war, welche er mit uneingeschränkter Disziplin führte. Sein Sohn schaute zu ihm auf und verlangte nichts weiter als etwas Aufmerksamkeit, die er in Form eines mürrischen Spruches erhielt, wenn er von einer Schularbeit nur ein „Zufrieden“ nach Hause brachte. Die Mutter fügte sich dem autoritären Regime und beschränkte sich darauf, die gute Seele der Familie sein. Also trocknete sie die Tränen unseres jungen Arztes und gab ihm die Wärme, die der Vater vermissen ließ. Schon bevor ihr Sohn ein Bein vor das andere setzen konnte, war es für das Familienoberhaupt beschlossene Sache, wie er sein Leben formen würde. Schließlich zielte er darauf ab, einen würdigen Nachfolger für die Praxis zu erhalten. Die Mutter unterstützte dieses Vorhaben, denn sie wollte auch, dass aus ihm ein überaus erfolgreicher und respektabler Mensch wird. Natürlich ignorierte sie dabei, dass sich Erfolg nicht mit der Anhäufung von materiellen Reichtum messen lässt, sondern vielmehr mit der Anzahl der Endorphine, welche durch unseren Körper jagen, weil wir mit dem was wir tun, wer wir sind und mit wem wir leben glücklich sind. So trieben sie ihn mit unermüdlichem Ehrgeiz durch die Jugend, die er zumeist in dem Studienzimmer seines Vaters verbrachte. Das Fensterglas war oftmals von seinem Atem beschlagen, als er den Kopf dagegen lehnte und nach draußen auf das hektische Treiben der Stadt starrte, das dumpf ins Zimmer drang. Es zog ihn hinaus in die Welt, die für ihn ein unvorstellbar faszinierender Ort war, die unermessliche Schätze bereithielt und in der es Schönheiten zu entdecken galt. Alles, was von diesem Wunsch übrig blieb, waren seine Abdrücke auf dem Fenster, welche seine Mutter stetig aufs Neue von der Fensterscheibe wischte. Doch war es genau der Raum, in dem er seine Ausflucht fand, als er eines Tages durch den Bücherschrank seines Vaters stöberte und dort eine Welt entdeckte, die aus endlos erscheinenden Buchstaben bestand, woraus zerbrechliche Wörter emporwuchsen und zu kräftigen Sätzen verschmolzen, die es vermochten gewaltige Geschichte voller Ausdruck, Hingabe und Leben auf dem Papier entstehen zu lassen, dass er von nun an täglich in diesen faszinierenden Welten versank. Sein Vater registrierte dies mit einem zufriedenen Lächeln, da für ihn ein belesener Mensch Ausdruck von Intelligenz war und somit nur allzu förderlich für den vorgesehenen Werdegang des Schützlings.

Die Jahre verstrichen und die Zeit veränderte nichts: Sein Vater zeichnete weiterhin den Lebensweg unseres mittlerweile herangewachsenen Arztes und drängte ihn auf die beste Universität des Landes. Ihm genügte es hingegen nicht mehr, in die Welten der Literatur zu tauchen. Er fand seine Leidenschaft darin, aus unzähligen Buchstaben Worte zu formen, diese wiederum in Sätze verschmelzen zu lassen, um sie mit viel Geschick und Anstrengung zu einer Geschichte zu verwandelten. Während ein Großteil seiner Erzählungen noch in seinen Kopf verweilten, fanden einige wenige ihren Weg auf das Papier, welche jedoch umgehend in den einsamen und dunklen Sphären der untersten Schublade seines Schreibtisches verschwanden. Denn vermochte er es zwar, seinen Charakteren mit Heldentum und Mut zu bekleiden, doch verfingen sich diese Eigenschaften in der Tinte auf dem Papier und fanden ihren Weg nicht zu ihn. Er verschwieg, dass er selber von einem ganz anderem Leben träumte und tat weiterhin alles, um den Anschein des aufstrebenden Medizin Studenten zu wahren, um die Zustimmung seines Vaters zu erhalten. Doch hielt er nicht einen Tag in der Universität auf, sondern erschuf Welten, in denen es ihm möglich war, fernab jeglicher Vergänglichkeit Abenteuer epischen Ausmaßes zu erleben, sich in einem Detail zu verlieren oder die unvollendete Schönheit eines Fragmentes zu bewundern. Er verbrachte all seine Tage mit der Schaffung von Wörtern und es waren genau diese Momente, in welchen er sich zugleich großartig, frei und schön fühlte. Die Ausführung natürlicher Bedürfnisse empfand unser junger Arzt als überaus lästig. Es kam häufig vor, dass das morgendliche Vogelgezwitscher ihn auf unangenehme Art und Weise aus seiner Welt riss, in der er Geborgenheit erfuhr. Die ausgeprägten Augenringe waren für den Vater nichts weiter als der untrügliche Beleg des strebsamen Eifers seines Sohnes. Die Jahre vergingen und mit seiner aufquellenden Fantasie, konnte er die Fassade gegenüber seinen Eltern aufrechterhalten. Sein Vater war so stolz auf sich, als er an jenem Tag glaubte, dass er endlich den Abschluss erreicht hat und nun am Ziel seiner Träume angekommen war. Als Belohnung nahm er nahm den Sohn in seiner Praxis auf und war sich sicher, dass beide fortan erfolgreich zusammenarbeiten würden. Auch hier verhalf ihm sein Einfallsreichtum dazu, die Eltern hinters Licht zu führen. Denn obwohl unser Arzt nicht die geringste medizinische Expertise aufbieten konnte, ließ er sich ständig neue Behandlungstechniken einfallen, die er mit Fantasiebegriffen erklärte, womit er jegliche Verdachtsmomente seiner Patienten ausräumte.

Alles verlief gut, bis zu dem einen Tag, als der Zufall nichts Anderes wollte, das die Mutter Licht in die unterste Schublade seines Schreibtisches brachte und den vielen Geschichten nun das gab, was sie all die Zeit vermissten und brauchten: einen Leser. Die Mutter betrachtete seine Buchstaben, wie ihr Sohn daraus ihnen Worte gebildet und diese zu Sätzen geformt hatte, welche sich wiederum auf so wundervolle Art und Weise zu Erzählungen verwandelten, dass Tränen in den Augen standen. Jedoch wurde ihre faltige Haut nicht nur wegen der Schönheit der Texte mit Traurigkeit benetzt, sondern auch, weil sie nun begriff, dass diese Geschichten in der Lage waren das kalte Herz des Vaters zu brechen. Zaghaft wischte sie sich die Tränen aus dem Gesicht und zwängte mit zitternder Hand das Papier zurück in die Dunkelheit der untersten Schublade und seither nie wieder öffnete. Sie schwieg und verdrängte jene Gedanken, die mahnend von Zeit zu Zeit aufkamen, ob ihr Sohn wirklich zufrieden oder gar glücklich mit seinem Leben als Arzt ist.

So vergingen die Jahre bis zu jenem Tag, diesen schicksalhaften Tag, als unser sympathischer Arzt vor dem Hintern des Patienten stand und ihm einen Kamille-Waldbeeren Einlauf verpasste. Es war dieser Moment, als ein dumpfes Geräusch aus dem Nebenzimmer die Praxis mit Stille füllte. Als unser Arzt eilig die Tür aufriss, fand er den Vater auf dem Boden liegend, wie er mit starren Augen auf seine linke Brust griff. Es versagte genau jener Muskel, der all die Zeit verzweifelt versuchte seinen Körper mit Wärme zu füllen und nun endgültig aufgab. Unser Arzt kniete vor ihm und konnte den Hilfe suchenden Blicken nicht mehr als Hilflosigkeit erwidern. Er hielt seine Hand und spürte, wie das Leben durch seine Hände sickerte, bis er kurze Zeit später in seine leeren Augen schauen musste. All die Jahre vermochte er nicht das Herz seines Vaters zu brechen und nun war er unfähig es zu retten.

Nach dem Tod des Vaters vergeht kein Moment, in dem sein Gewissen nicht mit Schuld und Reue geflutet wird. Die Zeit lässt in ihm einen Gedanken heranwachsen. Er glaubt, dass er all die Jahre eine Person war, die er eigentlich nicht ist und dieser Gedanke verändert alles. Denn ist es dieser Gedanke, aus dem eine Erkenntnis emporwächst und zu der Gewissheit verschmilzt, die sein Leben von Grund auf verändern. Er schließt die Praxis und entscheidet sich Arzt zu werden. Erneut schreibt er sich in einer Universität ein. Jedoch besucht er nun die Vorlesungen und nach einigen Jahren der harten Arbeit, erhält er endlich seinen redlich verdienten Doktortitel. Aus unserem Arzt ist nun ein Arzt geworden. Kurz darauf eröffnet er die Praxis seines Vaters und versteht es diesmal, mit dem nötigen Sachverstand, die Prostata eines Mannes nach medizinisch korrektem Standard zu untersuchen. Oft denkt er an seinen Vater und ist nun der festen Überzeugung, dass er nun genau das Leben führt, das er für würdig erachtet hätte.

An einem Abend, nachdem der letzte Patient die Praxis verlassen hatte, bringt unser Arzt letzte Sonnenstrahlen eines vergehenden Tages in die unterste Schublade seines Schreibtisches, als er diese durch einen Moment der Gedankenlosigkeit öffnet. Es ist dieser Augenblick, als die Geschichten ihm die Vergessenheit nehmen und ihn an all die vergangenen Jahre erinnern. Der Anblick seiner Texte entfacht ein Feuer aus einer längst verdrängten Zeit. Ausdruckslos wirft er Papier um Papier in den Ofen, während seine Augen kalt das wild lodernde Feuer zurückwerfen. Die Flammen verschlingen alles und es scheint, dass sich das Papier vor Schmerz krümmen würde, als die Buchstaben und das Leben dahinter in dem aufstrebenden Rauch verwirken, bis nichts mehr zurückbleibt als eine verkohlte Erinnerung.

Als die Sonne Jahre zuvor ihr Licht in die Praxis warf, starb an diesen schicksalhaften Tag nicht nur ein Vater, sondern vielmehr auch ein großartiger Autor. Ein Autor, der mit seinen Geschichten die Herzen der Menschen erwärmt hätte, wie das seines Vaters.

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