Montag, 18. Juni 2012

Erinnerungen


Die vom Rost befallene Zellentür öffnet sich knarzend, hinter der ein Mann in Uniform durch die Gitterstäbe in das Gefängnis starrt. Aus seiner Nase dringt der letzte Zug einer Zigarette, die er zu Boden schnippt und ihr Glimmen unter seinen schwarz getränkten Lederstiefeln austritt. Er trägt die Hose in den Stiefeln, deren dunkler Stoff bis zu den Knien eng anliegt, um sich an den Außenseiten der Oberschenkel zu einem Ballon zu weiten. Über dem aufgeblähten Bauch spannt sich seine mit Goldknöpfen und Insignien verzierte Jacke. Streng mustert er das von Stäben umrandete Gefängnis, in dem ein Häftling mit bloßer Haut in seinen Körperausdünstungen kauert und die Luft mit beißendem Gestank prägt. Das zerzauste Haar baumelt schlaff auf den klammen Steinboden, während der Kopf an den Gittern lehnt und seine verblassten Pupillen ins Leere wanken. Der Mann in der Uniform brüllt ihm entgegen und richtet seinen ausgestreckten Zeigefinger nach draußen. Er schaut grimmig über seine Schulter, als der Gefangene zurückschreckt. Zwei Wärter setzen dem Insassen daraufhin mit Schlagstöcken zu und lassen erst dann von ihm ab, als erneut ein Schrei ertönt. Es verlangt ihm einige Mühe und Zeit ab, sich aufzurichten und aus der Zelle in einen umzäunten Gang zu schleppen. Abseits des Zauns folgen ihm im hallenden Gleichschritt die zwei Wärter sowie der Mann in der Uniform, dessen Atem von der Strecke deutlich heraussticht. An ihnen vorbei ziehen zahlreiche Zellentüren, ehe der Gefangene abrupt anhält und durch den Zaun blickt. Hinter der Dunkelheit der Gitterstäbe, dem dumpfen Wehklagen ihrer Bewohner, betrachten matte Augenpaare, wie ihn Schreie und Schläge wieder zum Weitergehen treiben. Vor einer kleinen Holztür mit zahllosen Kerben endet die Reise. Dicht neben ihm steht der Mann in der Uniform hinter den Gittern vor einem Vorhang und zwirbelt seinen zwischen den runden Wangen hervorstechenden Schnurrbart, ehe er seine weißen Lederhandschuhe überzieht. Ein Wärter reicht ihm eine Peitsche, deren Holz sich ächzend unter seinem angespannten Griff beugt, während er grimmig den Gefangenen anstarrt.
Der Vorhang öffnet sich und gleißendes Licht flutet den Gang. Aus dem Mann in der Uniform wird ein Dompteur, welcher mit ausgebreiteten Armen die Manege betritt und sich im Beifall der Zuschauer des Zirkuszelts verneigt. Er verteilt dutzende Luftküsse, ehe er sich dreht und den Lederriemen der Peitsche in den Sand fallen lässt. Musik dröhnt aus den Lautsprechern und die kleine Holztür neben dem Vorhang öffnet sich. Aus dem Gefangenen wird ein Löwe. Sein von der Enge des Käfigs getrübte Schritt hinterlässt seichte Abdrücke im Sand, als er durch die Arena trabt. Das Knallen der Peitsche durchbricht die Luft und drängt ihn auf ein Podest hinauf, von dem er zu dem gegenüberliegenden Podest springt. Nach einigen Sprüngen hält er abrupt für einen Augenblick inne, um durch den Zaun der Manege zu blicken. Hinter dem grellen Strahl des Scheinwerfers, dem aufgeregten Applaus der Zuschauer betrachten leuchtende Augenpaare, wie ihn Schreie und Peitschenschläge zum nächsten Sprung treiben. Als er den letzten Hocker erreicht hat, nähert sich ihm der Dompteur mit ausgebreiteten Armen und verneigt sich vor dem Jubel des Publikums, während zwei Tiertrainer vor dem Hocker einen Reifen entzünden. Er brüllt ihm entgegen und lenkt den ausgestreckten Zeigefinger zum Reifen, doch der Löwe zögert und betrachtet die Flammen. Die Zuschauer werden still. Nur wütende Schreie und fröhliche Musik füllen das Zirkuszelt, als die Lederriemen sich mit blutigen Wunden in die Haut fressen und doch daran scheitern ihn zu bändigen. Der Löwe springt von dem Podest und richtet seine Schritte zielstrebig auf den Dompteur, dessen rot gewordenes Gesicht sich nun zu wandeln beginnt und blanke Angst sich ihm bemächtigt. Bei dem Versuch der Flucht verliert er die Kontrolle und fällt. Der Schrei des Löwens ist laut, als er zum Entsetzen des Publikums über den Dompteur herfällt und die Manege nun mit panischen Hilferufen füllt.
Unter der verdreckten Mähne, dem ausgehungerten Leib eines gebrochenen Wesens keimte die Leidenschaft wieder auf, welche ungebändigt durch all die Barrikaden der Gehorsamkeit hindurchbrach und seinen Geist mit etwas flutete, das Gitterstäbe und Demütigung nicht länger verwirken konnten. Etwas, das nur in Vergessenheit geraten war und aufs Neue entflammte. Es war dieser Augenblick, der ihn mit Aufregung tränkte und in dem er endlich heimkehrte. Noch einmal wehte der trockene Wind der Savanne durch seine Mähne, noch einmal spürte er die hochstehende Sonne auf seiner Haut, den ausgedorrten Boden unter seinen Pranken und schmeckte den rastlosen Trieb auf seiner Zunge, als er auf seine Beute sprang. Auch wenn ihn dieser Moment später das Leben kostete, schenkt er ihm die Erinnerung an die Wildnis zurück.

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