Samstag, 5. Mai 2012

De brevitate vitae

Wörter, bei denen ich schon heftigst mit dem Schädel nickte, als ich sie las.



Nur einen kleinen Teil des Lebens leben wir. Die ganze übrige Dauer ist ja nicht Leben, sondern bloß Zeit. 

Wie wir sehen, bist Du an die äußerste Grenze des menschlichen Lebens gelangt; hundert Jahre oder mehr lasten auf Dir. Nun denn zieh' die Bilanz deiner Lebenszeit. Rechne aus, wieviel die Gläubiger, wieviel die Geliebte, wie viel der Patron, wie viel der Klient von dieser Zeit weggenommen hat, wie viel der Streit mit der Gattin, wie viel die Züchtigung der Sklaven, wie viel das geschäftige Umherlaufen in der Stadt. Nimm die Krankheiten dazu, die wir uns durch eigene Schuld zugezogen haben, nimm auch noch dazu, was ungenutzt liegengeblieben ist. Du wirst sehen, dass Du weniger Jahre behältst, als Du alt bist. 
Bring dir in Erinnerung, wann Du fest bei einem Entschluss geblieben bist, wie wenige Tage so verlaufen sind, wie Du es dir vorgenommen hattest, wann Du über Dich selbst verfügen konntest, wann Dein Gesicht Deine natürlichen Züge bewahrte, wann Dein Gemüt ohne Angst war, was Du in so langer Lebenszeit zustande gebracht hast, wie viele Dein Leben ausgeraubt haben, ohne dass Du merktest, was Dir verloren ging, wie viel grundloser Schwer, törichte Freude, gierige Leidenschaft und tändelnder Umgang weggenommen haben, wie wenig Dir von dem, was Dir gehört, übrig geblieben ist – Du wirst erkennen - Du stirbst zu früh.

Was ist nun Schuld daran? Ihr lebt, also ob Ihr immer leben würdet, nie kommt Euch Eure Vergänglichkeit in den Sinn, Ihr bemerkt nicht, wie viel Zeit schon vergangen ist.

Sehr viele wirst Du sagen hören: "Vom fünfzigsten Jahr an will ich mich ins ruhige Leben zurückziehen, das sechzigste Jahr wird mich von allen Verpflichtungen entbinden." Wen bekommst Du denn als Bürgen für ein längeres Leben? Wer wird alles so vonstatten gehen lassen, wie Du es bestimmst? Schämst Du Dich nicht, die Überbleibsel des Lebens für Dich aufzusparen und allein diejenige Zeit für hohe Gedanken vorzusehen, die für nichts anderes zu verwenden ist? Wie spät ist es, erst dann mit dem Leben zu beginnen, wenn man es beenden muss! Was für ein törichtes Vergessen der Sterblichkeit, vernünftige Vorsätze auf das fünfzigste und sechzigste Jahr zu schieben und in einem Alter das Leben anfangen zu wollen, bis zu dem es nur wenige bringen.

Mit dem Allerkostbarsten (die Zeit) treibt man ein Spiel aber man nimmt es nicht wahr, weil es etwas Unkörperliches ist, weil man es nicht zu Gesicht bekommt; deswegen schätzt man es so gering ein, ja misst ihm fast keinen Wert bei. Das Jahresgehalt und Geldspenden nehmen die Menschen sehr gern im Empfang, und dafür verdingen sie ihre Arbeitskraft oder ihre Mühe oder ihre Sorgfalt. Niemand schätzt die Zeit. Allzu achtlos macht man von ihr Gebrauch, als ob sie nichts kostete. Niemand wird Dir die Jahre zurückholen, niemand wird sie Dir noch einmal wiedergeben. Das Leben wird gehen, wie es begonnen hat, und seinen Lauf weder umkehren noch anhalten. Es wird keinen Lärm machen, nicht an seine Geschwindigkeit erinnern: lautlos wird es dahinfließen.

Seneca - Die Kürze des Lebens

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Nur zu, tu Dir keinen Zwang an!