Sonntag, 1. April 2012

Erinnerungen


Die Feder zieht über das Blatt und mit ihr die dunkle Hinterlassenschaft, welche sich zu Worten formt. Die Tinte glüht nur wenige Augenblicke in der welk gewordenen Sonne auf, ehe sie sich schließlich bindet und dem Papier übergibt.
Sie hebt den Stift und legt ihn abseits des Schreibblockes zur Ruhe. Mit tiefen Falten auf der Stirn streift ihr Blick über den Text, bis sie Schritte über den Teppich tapsen hört, denen ein stetiges Quietschen folgt. Sie schiebt den Stuhl zurück und schaut in die großen Augen ihrer Tochter, die mit ihrer schwarz-gelb gestreiften Holzente vor ihr steht. »Was machsten Du da?« fragt sie und versucht über den Rand des Schreibtisches zu lugen. »Ich versuche mich an einer Kurzgeschichte. Willst Du sie mal sehen?« Als sie nickt, hebt sie sie auf ihren Schoß und liest ihr von ihrem Text vor. »Warum schreibst Du immer so traurige Geschichten Mama?« erkundigt sie sich kurz darauf. Die Mutter hält einen Augenblick inne und antwortet: »Weißt Du, ich habe viele schlimme Dinge erlebt und all diese Erinnerungen daran sind noch in mir drinnen. Ich kann niemanden davon erzählen, weil ich Angst habe, dass es diesen Menschen weh tun könnte. Genauso wie es mir weh tun würde, sie weiter in mir zu lassen. Also stecke ich jede Erinnerung in eine Geschichte und befreie sie damit. Solange bis ich leer bin.« Sie nimmt das Weinglas von ihrem Tisch. »So leer wie dieses Glas und erst dann kann ich es mit neuem Saft füllen, ohne den Alten noch herauszuschmecken. Verstehst Du?« Sie überlegt eine Weile, bis sie ihren Kopf nach hinten neigt und erwartungsvoll fragt: »Wenn Du das Glas leer gemacht hast, kommst Du dann öfters mit mir spielen?« Die Mutter lächelt und streicht die Haare ihrer Tochter zurück und küsst ihre Stirn. »Wenn ich damit fertig bin, dann unternehmen wir zusammen eine große Abenteuerreise. Versprochen.«
Kurz nachdem sie mit einem Kichern von dem Schoß gesprungen ist und ihr quietschendes Spielzeug aus dem Zimmer gezogen hatte, rückte sie den Stuhl wieder wieder an den Tisch und benetzte die Feder ihres Stiftes mit dunkler Flüssigkeit.

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