Sie neigte sich ihm entgegen, ihre verlangenden Lippen näherten sich den seinen, schweigend begrüßten sie einander im ersten Kuß. Langsam schloß er seine Hand um ihren Nacken, ihre Hände spielten miteinander.
[...]
Leise zog er ihr den weißen Pelz vom Halse und schmeichelte ihr die Kleider vom Leibe. Mochte draußen der dünne Sichelmon vollends hinter die Bäume hinabschwimmen, die Liebenden wußten nichts davon. Ihnen blühte das Paradies, zueinander gezogen und ineinander verschlungen verloren sie sich in seine duftende Nacht, sahen seine weißen Blumengeheimnisse dämmern, pflückten mit zärtlichen und dankbaren Händen seine ersehnten Früchte. Noch nie hatte der Spielmann auf einer solchen Laute gespielt, noch nie hatte die Laute unter so starken und kundigen Fingern geklungen.
[...]
Gleich darauf, während sie mit geschlossenen Augen bebend lag, erhob er sich leise und schlüpfte in seine Kleider. Schweigend blieb sie liegen, bis er angekleidet war. Nun schlug er sachte die Decke über sie und küßte ihre Augen.
[...]
[...]
Gegen Mitternacht stand er auf dem Fischmarkt und sah am Hause empor. Es war spät, niemand mehr würde wach sein, wahrscheinlich würde er die Nacht draußen bleiben müssen. Zu seinem Erstaunen fand er die Haustür offen. Leise schlich er hinein und schloß hinter sich das Tor. Der Weg zu seiner Kammer führte durch die Küche. Dort war Licht. Bei einem winzigen Öllämpchen saß Marie am Küchentisch. Eben war sie eingenickt, nachdem sie zwei, drei Stunden gewartet hatte. Sie erschrak und sprang auf, als er eintraf.
"Oh", sagte er, "Marie, bist denn du noch auf?"
"Ich bin auf", sagte sie. "Sonst hättest du das Haus verlassen gefunden."
"Es tut mir leid, Marie, daß du gewartet hast. Es ist so spät geworden. Sei mir nicht böse."
"Ich bin dir nie böse, Goldmund. Ich bin nur ein wenig traurig."
"Traurig sollst du nicht sein. Warum denn traurig?"
"Ach, Goldmund, ich möchte wohl, dass ich gesund und schön und stark wäre. Dann müßtest du nicht in der Nacht in fremde Häuser gehen und andere Frauen liebhaben. Dann würdest du wohl auch einmal bei mir bleiben und mit mir ein wenig lieb sein."
Hermann Hesse - Narziß und Goldmund
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