Samstag, 7. Januar 2012

Vom Echt sein und dem Weg dahin

Das Pferdchen lebte länger in dem Kinderzimmer als irgend jemand sonst. Es war so alt, daß sein brauner Stoff ganz dünn geworden war und man alle Nähte darunter durchsah. Die meisten seiner Schwanzhaare hatte man herausgezogen, um Perlen aufzuziehen. Es war in Ehren alt und weise geworden...

"Was ist echt?" fragte eines Tages der Stoffhase, als sie Seite an Seite in der Nähe des Laufställchens lagen, noch bevor das Kindermädchen gekommen war, um aufzuräumen.

"Bedeutet es, dass man Sachen in sich hat, die summen, und einen Griff daran?"

"Wirklich - so wirst Du nicht gemacht", sagte das Knochenpferd. "Das ist etwas, was Dir geschieht. Wenn ein Kind Dich lange, lange Zeit lieb hat, nicht bloß, um mit Dir zu spielen, sondern Dich wirklich liebt, dann wirst du wirklich."

"Tut das weh?" fragte das Kaninchen.

"Manchmal", antwortete das Knochenpferd, denn es war immer wahrheitsliebend. "Aber wenn Du Wirklich bist, dann macht es Dir nichts aus, wenn man dir weh tut."

"Geschieht das ganz plötzlich, so, als ob man verwundet wird?" fragte es. "Oder Stück für Stück?"


"Es geschieht nicht auf einmal", sagte das Knochenpferd. "Du entwickelst Dich. Das dauert lange. Darum geschieht es auch nicht oft mit Leuten, die leicht entzweibrechen oder die scharfe Kanten haben oder mit denen man vorsichtig umgehen muss. Im allgemeinen ist Dein Fell zum größten Teil fortgeliebt, wenn Du endlich wirklich bist. Deine Augen sind herausgefallen und Deine Glieder schlackern, und du bist sehr schäbig. Aber das alles ist überhaupt nicht wichtig, denn wenn du einmal wirklich bist, dann kannst du nicht mehr hässlich sein, außer für die Leute, die nicht verstehen... aber wenn du einmal Wirklich bist, kannst du nie wieder unwirklich werden. Es dauert für alle Zeit."


Margery Williams - 
The Velveteen Rabbit

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